(New York, 21. Oktober 2009) – Die chinesische Regierung soll unverzüglich Auskunft über den Verbleib sämtlicher Personen geben, die im Zusammenhang mit den Protesten im Juli 2009 in Urumqi inhaftiert wurden. Zudem soll eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle zugelassen werden, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 44-seitige Bericht „‘We Are Afraid to Even Look for Them’: Enforced Disappearances in the Wake of Xinjiang’s Protests“ dokumentiert das Verschwinden von 43 uigurischen Männern und Jugendlichen, die nach den Protesten von chinesischen Sicherheitskräften verhaftet worden waren.
„Die von uns untersuchten Fälle stellen wohl nur die Spitze des Eisbergs dar“, so Brad Adams, Leiter der Asien-Abteilung von Human Rights Watch. „Die chinesische Führung behauptet, sie achte das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Doch durch nichts könnte sie diesen Anspruch deutlicher in Frage stellen, als durch ihre Praxis, Menschen zu Hause oder auf der Straße aufzugreifen und sie ‚verschwinden‘ zu lassen, während sie die Familien der Ungewissheit überlässt, ob ihre Angehörigen noch leben oder bereits tot sind.“
Vergangene Woche eröffneten die Justizbehörden in Xinjiang eine Reihe von Verfahren gegen Personen, die wegen ihrer Beteiligung an den Demonstrationen angeklagt sind. Neun Männer wurden bereits zum Tode verurteilt, gegen drei weitere ergingen Todesurteile mit zweijährigem Vollstreckungsaufschub. Ein Angeklagter erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe.
Nach Erkenntnissen von Human Rights Watch führten die paramilitärische „Bewaffnete Volkspolizei“ und die Armee am 6. und 7. Juli 2009 eine Reihe großangelegter Razzien in zwei vorwiegend von Uiguren bewohnten Stadtteilen von Urumqi, Erdaoqiao und Saimachang durch. In geringerem Umfang dauerten die Operationen noch bis mindestens Mitte August an.
In den von Human Rights Watch dokumentierten Fällen von Verschwindenlassen sind die Opfer junge uigurische Männer im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, wobei die beiden jüngsten nur 12 bzw. 14 Jahre alt waren. Es ist zwar möglich, dass auch Han-Chinesen verschleppt wurden, jedoch berichtete keiner der über 20 befragten chinesischen Bewohner von Urumqi über derartige Vorfälle.
Laut Augenzeugenberichten riegelten die Sicherheitskräfte ganze Viertel ab und suchten nach uigurischen Männern. In einigen Fällen trennten sie die Männer von den anderen Bewohnern, zwangen sie, sich hinzuknien oder auf den Bauch zu legen, und schlugen sie, während sie Fragen über ihre Beteiligung an den Demonstrationen stellten. Diejenigen, die Wunden oder Blutergüsse hatten oder während der Proteste nicht zu Hause gewesen waren, wurden mitgenommen. In anderen Fällen verhafteten die Sicherheitskräfte einfach alle jungen Männer, die sie zu fassen bekamen, und drängten sie zu Dutzenden in Lastwagen.
Der 25-jährige Makhmud M. [Name geändert] und 16 weitere Männer wurden in der Folge der Razzien im Stadtteil Saimachang in Urumqi verschleppt. Seine Frau und andere Augenzeugen beschrieben im Gespräch mit Human Rights Watch, wie am 6. Juli um 7 Uhr abends etwa 150 uniformierte Polizisten und Soldaten die Hauptstraße in ihrem Viertel sperrten:
„Sie befahlen allen Bewohnern, ihre Häuser zu verlassen. Frauen und ältere Menschen mussten zur Seite treten, während sie alle Männer zwischen 12 und 45 Jahren an einer Wand aufstellten. Sie zwangen einige, sich hinzuknien, und fesselten ihre Hände hinter dem Rücken an Stöcke. Andere zwang man, sich mit den Händen über dem Kopf auf den Boden zu legen. Die Soldaten zogen ihnen die Hemden oder T-Shirts über den Kopf, um ihnen die Augen zu verbinden. Polizisten und Soldaten untersuchten die Männer auf Wunden oder Blutergüsse und fragten, wo sie am 5. und 6. Juli gewesen seien. Sie schlugen willkürlich auf die Männer ein, selbst auf Alte. Unser 70 Jahre alter Nachbar wurde mehrmals geschlagen und getreten. Wir konnten nichts tun, um sie aufzuhalten – sie hörten nicht auf uns.“
In diesem und in anderen von Human Rights Watch dokumentierten Fällen versuchten die Familien vergeblich, Auskunft über den Verbleib ihrer Angehörigen zu erhalten. Die Polizei und andere Vollzugsbehörden stritten jegliches Wissen über die Verhaftungen ab oder schickten die Familien einfach fort.
Human Rights Watch fordert die chinesische Regierung auf, die Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens unverzüglich zu beenden, alle Gefangenen freizulassen, die ohne Anklage festgehalten werden, und über alle inhaftierten Personen Auskunft zu geben. Zudem soll sie eine unabhängige internationale Untersuchung der Unruhen in Urumqi und ihrer Folgen ermöglichen. Human Rights Watch appellierte zudem an den UN-Hochkommissar für Menschenrechte, die Führung einer solchen Untersuchung zu übernehmen.
„China soll nur offizielle Haftanstalten nutzen, damit alle Inhaftierten mit ihren Familien und mit einem Anwalt in Kontakt treten können“, so Adams. „Ein Land, das eine weltweite Führungsrolle anstrebt, darf Menschen nicht einfach verschwinden lassen.“
Bei den Demonstrationen zwischen dem 5. und 7. Juli 2009 in Urumqi, der Hauptstadt der Provinz Xinjiang, kam es zu den schwersten ethnischen Ausschreitungen seit Jahrzehnten in China. Auslöser der Proteste war offenbar ein Übergriff auf Uiguren im südöstlichen Teil des Landes. Viele Uiguren sind verärgert, weil die Zentralregierung seit langem eine diskriminierende Politik gegenüber der uigurischen Minderheit betreibt. Die anfangs noch friedliche Kundgebung eskalierte rasch zu einem gewaltsamen Übergriff auf Han-Chinesen, bei dem zahlreiche Menschen verletzt oder getötet wurden.
Statt eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle in Übereinstimmung mit nationalen und internationalen Standards einzuleiten, führten die chinesischen Vollzugsbehörden im großen Maßstab rechtswidrige Verhaftungen in den von Uiguren bewohnten Vierteln von Urumqi durch. Nach offiziellen Zahlen wurden weit über 1.000 Personen im Zusammenhang mit den Protesten festgenommen.
Nach internationalem Recht macht sich ein Staat des „gewaltsamen Verschwindenlassens“ schuldig, wenn er eine Person inhaftieren lässt und bestreitet, sie festzuhalten, oder nicht offenlegt, wo die Person inhaftiert ist. Opfer des Verschwindenlassens unterliegen meist einem hohen Risiko gefoltert oder außergerichtlich hingerichtet zu werden. Ihre Familien und Freunde leben in ständiger Angst und seelischem Leid, weil sie nicht wissen, was mit der verschleppten Person geschehen ist.
„Die USA, die Europäische Union und alle anderen internationalen Partner sollen von der chinesischen Regierung unmissverständliche Auskünfte darüber verlangen, was mit den Menschen passiert ist, die in Xinjiang verschwunden sind“, so Adams. „Handelsbeziehungen oder politische Erwägungen dürfen nicht dazu führen, dass man China gegenüber anderen Staaten, die diese furchtbare Methode anwenden, eine Sonderrolle gibt.“