Zwischen der Menschenrechtsrhetorik der Europäischen Union und den allzu oft unzureichenden und manchmal diskriminierenden Gesetzen und Praktiken der Mitgliedsstaaten klafft eine große Lücke. Diese Lücke ist besonders ausgeprägt, wenn es um Migrations- und Asylfragen geht, den Kampf gegen Rassismus oder den Schutz von rechtsstaatlichen Prinzipien.
Migrant*innen, Geflüchtete und Asylsuchende
Die EU setzt mit ihrer Migrations- und Asylpolitik zunehmend auf Abschreckung. Erkennbar ist dies an den jüngst verabschiedeten Richtlinien, die die Rechte von Migrant*innen und Asylsuchenden an den EU-Grenzen stark begrenzen, sowie an den verstärkten Bemühungen, die eigene Verantwortung an Länder außerhalb der EU auszulagern.
Das Migrations- und Asylpaket der EU, das im Mai angenommen wurde, enthält Bestimmungen, die bei entsprechender Anwendung verschiedene Rechte stark beschneiden werden. So werden es die neuen Richtlinien erschweren, dass Menschen überhaupt Asyl beantragen können, während sie es Regierungen einfacher machen, über Asylanfragen im Eilverfahren zu entscheiden und mehr Menschen an den EU-Außengrenzen festzuhalten. In vage definierten Situationen eines „massenhaften Zuzugs“ oder einer „Instrumentalisierung“ der Migration durch Drittstaaten werden die EU-Mitgliedsländer Menschen das Recht auf Asyl sogar verweigern können. Darüber hinaus befördern diese Änderungen, dass die EU-Staaten Menschen in Transit-Länder außerhalb der EU zurückbringen, wo ihre Rechte verletzt werden könnten oder ihnen die weitere Abschiebung in ihre Herkunftsländer droht. Das EU-Paket hat auch kaum dazu beigetragen, die Verantwortung zwischen den Mitgliedsstaaten gerechter zu verteilen. Im Oktober unterzeichneten 17 EU-Mitgliedsländer ein Non-Paper, mit dem sie sich für einen neuen Gesetzesentwurf einsetzten, um die Zahl der Rückführungen zu erhöhen.
Im Anschluss an ein Abkommen von 2023 mit Tunesien und der fortgesetzten Zusammenarbeit im Bereich der Migrationssteuerung mit libyschen und marokkanischen Behörden – ohne jegliche effektive Garantien im Menschenrechtsbereich – hat die EU 2024 neue Migrationspartnerschaften mit Ägypten und Mauretanien verkündet und das Budget für die Grenzverwaltung durch beide Länder ebenso wie für den Libanon erhöht. Die EU ist diese Partnerschaften eingegangen, obwohl zahlreiche Migrant*innen und Geflüchtete unter Gräueltaten in Libyen leiden, die Rechte von Migrant*innen, Asylsuchenden und Geflüchteten im Libanon, in Tunesien, Ägypten, Mauretanien und Marokko missachtet werden und sie keinen entsprechenden Schutz genießen. Die EU hat es zumeist versäumt, die Verletzungen der Rechte von Migrant*innen in Ländern anzuprangern, mit denen sie derartige Partnerschaften abgeschlossen hat.
Mit Unterstützung der Frontex-Luftüberwachung haben Italien und Malta wiederholt libyschen Sicherheitskräften zugearbeitet und ihnen ermöglicht, Boote mit Migrant*innen und Geflüchteten abzufangen und die Menschen in Länder zurückzuschicken, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Mit Unterstützung der Europäischen Kommission verkündete Tunesien im Juni die Einrichtung einer „Such- und Rettungszone“, die statt einem verbesserten Schutz des Lebens und der Sicherheit auf See voraussichtlich dazu führen wird, dass mehr Boote abgefangen und mehr Menschen nach Tunesien zurückgebracht werden, wo ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen.
Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) bemängelt, dass weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen an den EU-Grenzen – Versäumnisse bei der Rettung und Unterstützung von Migrant*innen in Not, Misshandlung und Missbrauch – nicht ausreichend geahndet werden. Die Agentur forderte eine strenge Überwachung an den Grenzen und wirksamere Rechenschaftsmechanismen. Die Europäische Ombudsstelle sagte, dass Frontex klare Richtlinien für die Bewertung von Seenotfällen und die Abgabe von Seenotsignalen benötigt, und forderte die Einrichtung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung von Todesfällen im Mittelmeer. Im Oktober sprachen verschiedene Staats- und Regierungschef*innen von EU-Mitgliedsstaaten Polen ihre Unterstützung zu, als das Land ankündigte, den Zugang zu Asylverfahren an der Grenze zu Belarus auszusetzen, eine Entscheidung, die einen Verstoß gegen internationales und EU-Recht darstellen könnte.
Zahlreiche EU-Länder haben ihr Interesse ausgedrückt, die Verantwortung für Asylverfahren auszulagern, oder haben entsprechende Maßnahmen unterstützt. Im Oktober und November 2024 brachte Italien erste Gruppen von Migrant*innen nach Albanien. Im Rahmen eines Abkommens sollen Männer, die von Italien auf See aufgegriffen werden und aus Ländern stammen, die als „sicher“ eingestuft werden, zur weiteren Bearbeitung ihrer Asylanträge nach Albanien gebracht werden. Die Zukunft des Abkommens steht allerdings in den Sternen, nachdem ein italienisches Gericht die Freilassung beider Gruppen anordnete, weil nicht kategorisch davon ausgegangen werden könne, dass ihre Herkunftsländer sicher seien. Das Gericht verwies den Fall an den Europäischen Gerichtshof (EuGH), der Anfang Oktober bereits geurteilt hatte, dass ein Land nur dann als sicher eingestuft werden könne, wenn für dieses Land keine Ausnahmen gelten.
Der deutsche Sonderbevollmächtigte für Migrationsabkommen schlug im September vor, dass Deutschland Migrant*innen, die über Russland oder Belarus in die EU eingereist waren, nach Ruanda schicken könnte, während der dänische Minister für Einwanderung und Integration, ebenfalls im September Australien und Nauru besuchte, um mehr über Australiens missbräuchliches Modell zur Auslagerung von Asylverfahren in Erfahrung zu bringen. Im Mai riefen 15 EU-Mitgliedsstaaten die Europäische Kommission dazu auf, Optionen zur Auslagerung von Asylverfahren in Länder außerhalb der EU zu untersuchen, einschließlich der Möglichkeit, Menschen in „sichere Drittstaaten“ zu schicken.
An den statistischen Daten ließen sich Veränderungen an den Migrationsrouten ablesen. So kamen wesentlich mehr Menschen auf den Kanarischen Inseln und den östlichen Landgrenzen der EU an, während die Zahl der Migrant*innen sank, die über die Mittelmeerroute oder über den westlichen Balkan reisten. In den ersten neun Monaten von 2024 verzeichnete die Internationale Organisation für Migration (IOM) mindestens 1.452 Menschen, die im Mittelmeer ertranken oder verschollen sind, sowie mehr als 700 Tote oder Verschollene auf der Atlantikroute zu den Kanarischen Inseln.
Diskriminierung und Intoleranz
2024 zeigten sich Regierungen von EU-Mitgliedsländern besorgt über den Aufstieg extrem rechter Parteien – obgleich etablierte Parteien deren Ansätze und Rhetorik häufig selbst übernahmen – sowie über die zunehmenden Fälle an rassistischer Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und diesbezüglicher Intoleranz. Die politische Debatte im Vorfeld der Europawahlen im Juni war geprägt von einer verstärkten Übernahme rassistischer, islamophober, migrationsfeindlicher und extrem rechter Narrative in den Mainstream.
Unterdessen führten die Auswirkungen des von der Hamas angeführten Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 sowie die darauf folgenden Feindseligkeiten zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen zu einer „alarmierenden Zunahme“ des Hasses in Europa gegen Juden*Jüdinnen sowie gegen Muslim*innen und Menschen, die als solche gelesen werden.
Im Juli veröffentlichte die FRA die Ergebnisse ihrer dritten Umfrage zu Diskriminierung und Hasskriminalität gegen Jüdinnen und Juden in der EU, die vor dem 7. Oktober durchgeführt worden war. Sie zeigte, welche Erfahrungen jüdische Menschen machen und welch „hohes Ausmaß an Antisemitismus“ sie in Europa wahrnehmen.
Im Oktober veröffentlichte die FRA „Being Muslim in the EU“ (dt. Muslimisch sein in der EU), ein Bericht auf Grundlage einer Erhebung unter Muslim*innen in 13 EU-Staaten zu ihren Erfahrungen mit Diskriminierung, einschließlich Hasskriminalität und Misshandlung durch die Polizei. Beinahe die Hälfte der Befragten gaben an, Rassismus erfahren zu haben.
Neben internationalen Stimmen zeigten sich im Laufe des Jahres 2024 auch das Europäische Parlament, der Europarat und seine Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz besorgt über die Zunahme an antisemitischem und antimuslimischem Hass. Im Oktober verabschiedete der Rat der Europäischen Union eine Erklärung zur Förderung jüdischen Lebens und zur Bekämpfung von Antisemitismus und betonte darin die Bedeutung von Bildung sowie von Schutzmaßnahmen für Betroffene aller Formen von Antisemitismus, Rassismus und anderen Formen von Hass.
Der Grundrechte-Bericht 2024 der FRA kommt zu dem Schluss, dass Intoleranz „in ganz Europa zu[nimmt] und viele Gruppen [betrifft], darunter Muslime, Menschen afrikanischer Abstammung, Roma, Migrantinnen und Migranten“, und weist darauf hin, dass „Desinformation und Online-Plattformen rassistische und polarisierende Haltungen verstärkt [haben]“. Eine FRA-Umfrage ergab, dass eine von drei LSBTIQ-Personen Diskriminierung erfahren hat, während ILGA-Europe eine Zunahme von Anti-LSBTIQ-Rhetorik in ganz Europa feststellte.
Der EU mangelt es weiterhin an einer dezidierten Strategie zur Bekämpfung altersbedingter Diskriminierung.
Im März hat der Europarat, dem auch alle EU-Mitgliedsländer angehören, eine Strategie zur Gleichstellung der Geschlechter 2024–2029 verabschiedet, die auch die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, deren gleichberechtigter Zugang zur Justiz sowie die Gewährleistung ihrer ausgewogenen Beteiligung am politischen, öffentlichen, sozialen und wirtschaftlichen Leben umfasst.
Im Mai verabschiedete die EU eine Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und von häuslicher Gewalt. Die Richtlinie umfasst Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, zu ihrem Schutz sowie zu einem verbesserten Zugang zu Rechtsmitteln für Frauen, die Gewalt erfahren haben. Sie enthält jedoch keine gemeinsam abgestimmte und auf EU-Ebene gültige Definition für Vergewaltigung. Zudem erkennt sie erzwungene Sterilisierungen nicht als Strafbestand an. Erzwungene Sterilisierungen, die unverhältnismäßig viele Frauen und Mädchen mit Behinderungen betreffen, sind in mindestens 12 EU-Mitgliedstaaten, einschließlich Bulgarien, Dänemark und Portugal, weiterhin legal.
Im Mai verabschiedete der Rat der Europäischen Union eine neue Richtlinie mit Mindeststandards für eine verbesserte Umsetzung von Anti-Diskriminierungsgesetzen durch die Mitgliedsstaaten, und zwar auf nationaler wie auf EU-Ebene.
Im September stellte die Europäische Kommission ihren Bericht zur Umsetzung des EU-Aktionsplans gegen Rassismus 2020–2025 vor. Der Kommission zufolge haben elf Mitgliedstaaten bereits einen eigenen nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Rassismus angenommen. Dennoch bestünden laut der Kommission auch in diesen Mitgliedsstaaten weiterhin Herausforderungen, etwa aufgrund unzureichender Mittel für die Umsetzung. Außerdem hätten die Mitgliedstaaten die Daten, die als Grundlage für politische Maßnahmen dienen, nicht nach ethnischer Herkunft aufgeschlüsselt.
In Juli kündigte Ursula von der Leyen, die erneut zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt wurde, an, dass in der Amtsperiode 2024–2029 der Kommission eine neue Strategie gegen Rassismus entwickelt werden soll. Im September verkündete von der Leyen zudem, dass die Themen Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung zukünftig in die Verantwortung der Kommissarin für Resilienz und Krisenmanagement fallen werden. Angesichts dessen, dass es zuvor eine explizit zuständige EU-Kommissarin für Gleichstellung gab, ist das ein Rückschritt. Von der Leyen erweiterte im Dezember die Befugnisse der Koordinator*innen zur Bekämpfung von Antisemitismus und antimuslimischem Hass, die nun direkten Zugriff zum Büro der Kommissionspräsidentin erhielten. Für die Koordinatorin zur Bekämpfung von Rassismus gilt das jedoch nicht.
Armut und Ungleichheit
EU-Daten vom Juni 2024 zeigten, dass 94,6 Millionen Menschen (21,4 Prozent der Bevölkerung) im Jahr 2023 „von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht waren“; 29,3 Millionen davon erlebten erhebliche materielle oder soziale Entbehrung. Frauen sind weiterhin unverhältnismäßig oft betroffen.
Die Armutsraten und das Ausmaß an sozialer Ausgrenzung in Rumänien und Bulgarien, den beiden am stärksten betroffenen EU-Mitgliedsstaaten, lagen bei über 30 Prozent, und auch bei den drei danach am stärksten betroffenen Ländern, Griechenland, Spanien und Lettland, lagen sie weiterhin über 25 Prozent.
Bis August, als die Energiepreise sanken und so zu einer leichten Entspannung der Lebenshaltungskostenkrise führten, verringerte sich die durchschnittliche EU-weite Inflation auf 2,2 Prozent.
In der Erklärung von Vilnius vom Februar bekräftigten europäische Regierungen und zwischenstaatliche Institutionen öffentlich ihre Entschlossenheit, „soziale Rechte“ umfassender um- und durchzusetzen, einschließlich der im Rahmen der Europäischen Sozialcharta des Europarats verankerten Rechte. In der Erklärung von La Hulpe im April wiederum bekräftigten sie die Rechte, die unter die Europäische Säule sozialer Rechte der EU fallen.
Der im April veröffentlichten EU-weiten Eurobarometer-Umfrage zufolge erachten 88 Prozent der Europäer*innen soziale Rechte als wichtig, etwa gute Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie eine angemessene Gesundheitsversorgung.
Im Januar veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Überwachungsrahmen für die Europäische Garantie für Kinder. Dieses EU-weite Instrument von 2021 mit einem Schwerpunkt auf der Bekämpfung von Kinderarmut sieht vor, dass die Mitgliedsstaaten bis 2030 kostenlose frühkindliche Betreuung und Bildung, mindestens eine gesunde Mahlzeit pro Schultag, Gesundheitsversorgung und Wohnraum für alle Kinder zur Verfügung stellen, die soziale Ausgrenzung oder andere Benachteiligungen erfahren. Kinderrechtsorganisationen wiesen auf die Dimension der Herausforderung hin, kritisierten die lückenhafte Umsetzung und Überwachung nationaler Pläne durch die jeweiligen Regierungen und forderten die Schaffung einer besseren Datengrundlage.
Eine 2024 von UNICEF in Auftrag gegebene Untersuchung der europäischen Strategie der letzten zwei Jahrzehnte zur Inklusion von Rom*nja-Kindern sowie zur Durchsetzung entsprechender Kinderrechte enthält die Forderung an EU-Institutionen und Regierungen der Mitgliedsstaaten, die Europäische Garantie für Kinder um dringliche und zielgerichtete Maßnahmen zur Bekämpfung von Kinderarmut unter Rom*nja zu ergänzen.
Ein Bericht der Europäischen Kommission und des Ausschusses für Sozialschutz, ein beratendes EU-Gremium, macht auf das weiterhin bestehende geschlechtsspezifische Rentengefälle aufmerksam (ein Unterschied von 26 Prozent zwischen Männern und Frauen in 2022), das auf ungleichen Löhnen und Beschäftigungsquoten basiert. Frauen legen öfter Berufspausen ein oder arbeiten in Teilzeit, unter anderem um sich Care-Arbeiten zu widmen. Zivilgesellschaftliche Gruppen forderten einheitlichere Systeme zur Anerkennung solcher Tätigkeiten in Form von Rentenansprüchen und verwiesen auf die besonders hohen Armutsraten bei Frauen über 75.
Im Juli trat die EU-Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen in Kraft, die große Unternehmen in die Pflicht nimmt, Menschenrechtsverstöße in ihren Lieferketten zu verhindern und Abhilfe zu schaffen. Im Dezember gab die EU ein Verkaufsverbot von Produkten bekannt, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden.
Rechtsstaatlichkeit
Die Europäische Union legte weiterhin ihren Fokus auf den Schutz von Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Institutionen in den Mitgliedsstaaten, unter anderem durch die Schaffung eines neuen Postens des Kommissars für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit. Konkrete Maßnahmen hinsichtlich der gravierendsten Bedenken verfehlten jedoch ihre Wirkung.
Das weiterhin offene Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags (EUV) gegen Ungarn wurde fortgesetzt. Im Rahmen dieses Instruments kann die EU auf schwerwiegende Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit mit einem Dialog und mit Sanktionen reagieren. Der Europäische Rat hielt seine siebte Anhörung zu Ungarn ab. Doch trotz der Tatsache, dass „nach wie vor schwerwiegende Mängel“ hinsichtlich der meisten Bereiche bestehen, auf die das Europäische Parlament in seinem Beschluss von 2018 hingewiesen hat und die zu diesem Prozess geführt haben, sprachen die EU-Mitgliedsstaaten weder Empfehlungen für die ungarische Regierung aus noch setzten sie eine Abstimmung darüber an, ob bei Ungarn die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der EU vorliegt.
Im März reichte das Europäische Parlament eine Klage gegen die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein, um die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission vom Dezember 2023 zu prüfen, wonach Ungarn die Mängel bei der Unabhängigkeit der Justiz behoben habe und Erstattungen in Höhe von bis zu etwa 10,2 Mrd. EUR in Anspruch nehmen könne. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts lag noch kein Urteil des EuGH vor.
Die Europäische Kommission eröffnete im Februar ein Vertragsverletzungsverfahren und zog im Oktober gegen Ungarn vor den EuGH, da sie das ungarische Souveränitätsverteidigungsgesetz (vgl. Kapitel zu Ungarn) als Verstoß gegen EU-Recht wertete.
Die Europäische Kommission verkündete im Juli gemeinsam mit einigen Mitgliedsstaaten einen teilweisen Boykott der ungarischen Ratspräsidentschaft aufgrund der Reise von Premierminister Victor Orbán nach Moskau, wo er den russischen Präsidenten Vladimir Putin traf, gegen den der Internationale Strafgerichtshof einen Strafbefehl erlassen hat.
Im Mai entschied die Europäische Kommission, das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen nach Artikel 7 zu beenden, obgleich die neu gewählte Regierung nicht alle erforderlichen Reformen umgesetzt hatte. Die überstürzte Entscheidung beruhte hauptsächlich auf „Verpflichtungen“ der polnischen Regierung unter Donald Tusk, die im Dezember 2023 vereidigt wurde.
In einer erstmals in dieser Form getroffenen Erklärung zur Rechtsstaatlichkeit in Griechenland äußerte das Europäische Parlament im Februar Bedenken hinsichtlich der Medienfreiheit, missbräuchlicher Gerichtsverfahren sowie der Überwachung von Journalist*innen, der Behandlung von Migrant*innen und der Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen. Mit der Erklärung wurde die Kommission aufgerufen, zu prüfen, ob Griechenland seinen Verpflichtungen zur Achtung der Grundrechte nachgekommen war, um auf EU-Finanzmittel zugreifen zu können.
Der EU-Jahresbericht über die Rechtsstaatlichkeit 2024 hob die entscheidende Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen hervor, wies jedoch nicht darauf hin, dass zu den zentralen Herausforderungen Einschüchterungsversuche sowie die Beeinträchtigung ihrer Arbeit in Frankreich, Italien, Ungarn, Deutschland und anderswo gehören. Neben zunehmenden Belegen für die Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Raums haben die Behörden in manchen europäischen Ländern offenbar im Fall von pro-palästinensischen Demonstrant*innen und Klima-Aktivist*innen auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig stark eingeschränkt.
Das Risiko einer Stigmatisierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die aus dem Ausland finanziert werden, nahm weiter zu. Dafür sorgten neue Initiativen für eine gesonderte Gesetzgebung zu sogenannten „ausländischen Agenten“ in manchen EU-Mitgliedsstaaten sowie die fortgesetzte Debatte in der EU zu einer vorgeschlagenen Richtlinie über die Transparenz der Interessenvertretung im Auftrag von Drittländern. In einer im September veröffentlichten Stellungnahme von UN-Expert*innen heißt es, dass die EU-Richtlinie eine abschreckende Wirkung auf die Zivilgesellschaft haben und die unter internationalem Recht geschützte Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unverhältnismäßig stark einschränken könnte.
Die im Mai 2024 verabschiedete KI-Verordnung der EU bedeutet einen großen Fortschritt bei der Regulierung von KI und verwandten Technologien. Sie umfasst ein Verbot von Social-Scoring-Systemen, Einschränkungen beim Einsatz biometrischer Überwachungstechniken sowie verpflichtende menschenrechtliche Risikobewertungen für „Hochrisiko“-Anwendungen. Nichtsdestotrotz weist sie in den Bereichen nationale Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzüberwachung auch erhebliche Schlupflöcher auf, während Risiken für eine Unternehmenshaftung wichtiger als menschenrechtliche Risiken erachtet werden. Berichten zufolge wurden Mitglieder des Parlaments 2024 mit Spyware überwacht. Die EU muss erst noch Schritte unternehmen, um die Entwicklung, den Verkauf und den Einsatz dieser Technik zu regulieren.