von Minky Worden
Als bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi die Feuerwerkskörper aufstiegen, saß Anastasia Smirnowa im weit entfernten Sankt Petersburg in Polizeigewahrsam. Die Vorkämpferin für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender hatte kurze Zeit zuvor den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees Thomas Bach getroffen, um ihm zu klarzumachen, wie Russlands schwulenfeindliche Gesetzgebung vor den Spielen in Sotschi zu einem Klima der Gewalt und Diskriminierung geführt hatte. Doch die russischen Behörden waren fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass der Glanz der Spiele nicht durch Enthüllungen über Menschenrechtsverletzungen getrübt wird. Sie verhafteten Smirnowa, als sie ein Banner hochhielt, auf dem das 6. Prinzip der Olympischen Charta prangte: „Diskriminierung ist unvereinbar mit der Zugehörigkeit zur Olympischen Bewegung.“
Im Vorfeld und während der Spiele in Sotschi wurden die Menschenrechte auf breiter Front mit Füßen getreten: Es kam zu Zwangsräumungen, Verletzungen von Arbeiterrechten, einem zunehmend harten Vorgehen gegen Mitglieder der Zivilgesellschaft und Journalisten und zur Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT) – Missstände, die weltweit Abscheu hervorriefen. Blickt man auf künftige Olympische Spiele, stellt sich die Situation hinsichtlich der Menschenrechte kaum besser dar.
Da Südkorea bzw. Tokio bereits eigene Menschenrechtsbeobachter eingesetzt haben, gibt ihre Wahl als Austragungsorte der Winterspiele 2018 bzw. der Sommerspiele 2020 keinen Grund zur Beunruhigung. Die Olympischen Winterspiele 2022, für deren Austragung sich nur China und Kasachstan bewerben, sollten dem IOC jedoch schlaflose Nächte bereiten.
Beide Länder haben eine miserable Bilanz in Sachen Pressefreiheit und versuchen, Journalisten im Gefängnis zu zermürben. Peking hat mit dem schärfsten Durchgreifen seit der blutigen Niederschlagung der Tiananmen-Proteste 1989 begonnen. Die Regierung lässt Journalisten inhaftieren und widersetzt sich dem internationalen Abkommen, das freie Wahlen in Hong Kong garantieren soll. In Almaty, wo regelmäßig friedliche Demonstranten verhaftet werden und die Arbeiterrechte mit Füßen getreten werden, könnte das IOC eine verheerende Neuauflage des harten Durchgreifens und Unrechts von Sotschi erleben.
Das IOC und andere internationale Sportverbände sollten die Krise um die Vergabe der Spiele im Jahr 2022 endlich zum Anlass nehmen, ein System reformieren, das schon viel zu lange Menschenrechtsverletzer belohnt, während es den Menschen vor Ort allzu oft Unheil bringt.
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Im Oktober 2014 zog sich Norwegen, das die Achtung der Menschenrechte zum Bestandteil seiner Olympiabewerbung gemacht hatte, aus dem Wettstreit um die Austragung der Winterspiele 2022 zurück. Damit blieben einzig Kasachstan und China als Bewerber zurück.
Das ölreiche Kasachstan zeigt großes Interesse am internationalen Prestigegewinn, den die Austragung der Olympischen Spiele mit sich bringt. China versucht wie schon bei Peking 2008, die Wettkämpfe zur Aufpolierung seines internationalen Ansehens zu nutzen. Unterdessen macht sich Aserbaidschan bereit, im Jahr 2015 die ersten „Europaspiele“ auszurichten – ein neues, durch die Europäischen Olympischen Komitees ins Leben gerufenes und verwaltetes Sportereignis –, während dort immer schärfer gegen kritische Stimmen vorgegangen wird.
Schon viel zu lange wiederholt sich dasselbe Schema: Regierungen sagen, was auch immer nötig ist, um die Olympischen Spiele austragen zu können, nur um sich anschließend als unzuverlässige Partner zu erweisen, die selbst zentrale Versprechen brechen; und das IOC erklärt sich machtlos. Nun, da Norwegen, das Gastland der Nobelpreisverleihungen, ausgeschieden ist, bleibt dem IOC nichts anderes übrig, als sich für die Spiele 2022 zwischen zwei Bewerbern mit einer miserablen Menschenrechtsbilanz zu entscheiden.
In China wie auch in Kasachstan sitzen friedliche Kritiker im Gefängnis; beide Länder haben in der jüngeren Vergangenheit Internetseiten zensiert und die Pressefreiheit eingeschränkt. In China begegnen Arbeitsmigranten – die man wohl auch für den Bau neuer Sportstätten heranziehen würde – Ausbeutung und gefährlichen Arbeitsbedingungen. Kasachstan hat durch sein gewaltsames Vorgehen gegen weitreichende Streiks im Jahr 2011 und sein neues Gewerkschaftsgesetz die Vereinigungsfreiheit massiv eingeschränkt. Auch bei den LGBT-Rechten offenbart sich Kasachstans Bilanz als problematisch: So wurde eine Werbeagentur angeklagt, weil sie die Darstellung eines gleichgeschlechtlichen Kusses für eine Plakatkampagne verwendet hatte, und im September wurde erneut gefordert, „homosexuelle Propaganda“ zu verbieten.
Um die Olympischen Spiele austragen zu dürfen, versprechen Regierungen nicht nur glitzernde neue Stadien, sondern auch die Achtung der „Grundlegenden Prinzipien des Olympismus“, also Menschenwürde, Pressefreiheit und die Absage an „jede Form der Diskriminierung“. Diese Prinzipien sind in der Olympischen Charta festgehalten, einem erhabenem Dokument, das die Vorbereitung der Spiele anleiten und die „Menschenwürde“ fördern soll.
Menschenrechtskrisen im Zuge sportlicher Großereignisse beschränken sich jedoch nicht auf die Olympischen Spiele. So kommt es in Katar, wo für die Fußballweltmeisterschaft 2022 gerade ein Dutzend Stadien und Infrastrukturprojekte mit einem Gesamtvolumen von 200 Milliarden US-Dollar gebaut werden, zu Menschenrechtsverletzungen in immensem Ausmaß: Im Bausektor, der wegen weitverbreiteter Menschenrechtsverletzungen berüchtigt ist, trotzen südasiatische Arbeitsmigranten Hitze und Staub. Hunderte sind in Leichensäcken in ihre Heimat zurückgekehrt. Die Behörden ignorieren die Forderungen nach einer internationalen Untersuchung der Todesfälle bis heute. Auch Russland blickt beim Schutz von Arbeitsmigranten auf eine düstere Bilanz zurück. Viele wurden beim Bau der Infrastrukturprojekte für die 53 Milliarden US-Dollar teuren Spiele in Sotschi ausgebeutet und betrogen. Dennoch steht Russland bereits als Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft 2018 fest.
Trotz allem stehen die Chancen für Veränderungen heute besser als früher: Fans, Sponsoren und die breite Öffentlichkeit reagieren zunehmend mit Befremdung, wenn im Zusammenhang mit extravagant inszenierten Sportereignissen über Menschenrechtsverletzungen berichtet wird.
Dieses explosive Gemisch aus Sport und Menschenrechtsverletzungen, das immer wieder mit sportlichen Großveranstaltungen einhergeht oder sogar von ihnen verursacht wird, lässt Reformen überfällig werden. Ihr Ziel sollte es sein, Regierungen dazu anhalten, ihre Menschenrechtsprobleme zu lösen, bevor sie als Gastgeber großer Sportereignisse in Frage kommen können. Die internationalen Sportverbände müssen sich der Erkenntnis stellen, dass Menschenrechtsprobleme eher zunehmen, wenn eine Regierung den Zuschlag für große Infrastrukturinvestitionen erhält. Gleichzeitig müssen die Lenkungsgremien des internationalen Sports sich auch von innen reformieren und dabei stets dem Mantra folgen, dass dort, wo schwere Menschenrechtsverletzungen verübt werden, keine erfolgreiche Sportveranstaltung stattfinden kann.
Die fünf zentralen Menschenrechtsverletzungen
Wenn Athleten bei einem olympischen Wettkampf gegen das Reglement verstoßen, werden sie hart bestraft. Wenn ein Gastgeberland sich jedoch über Regeln hinwegsetzte, kam es bisher meist ungestraft davon. Der ehemalige IOC-Präsident beteuerte oft, die Spiele seien ein „Motor des Guten“, doch er weigerte sich, offenkundige Verstöße gegen die Olympische Charta durch Gastgeberländer zu kritisieren.
Human Rights Watch hat umfangreich dokumentiert, wie sportliche „Mega-Events“ zu „Mega-Menschenrechtsverletzungen“ führen können, wenn die Spiele an Regierungen vergeben werden, welche die Menschenrechte nicht achten. Kein Land verfügt über eine perfekte Menschenrechtsbilanz, doch es sind immer häufiger die schwarzen Schafe, die sich am eifrigsten darum bemühen, ihren Ruf in der Welt aufzupolieren und den Patriotismus im eigenen Land zu befeuern, indem sie internationale Medien und Weltpolitiker zu einem extravaganten Sportspektakel einladen.
Human Rights Watch recherchiert seit mehr als einem Jahrzehnt zu diesem Thema und hat fünf Arten von Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die typischerweise im Zusammenhang mit sportlichen Großveranstaltungen auftreten:
Die erste sind Zwangsräumungen im Rahmen massiver Infrastrukturprojekte, bei denen die Betroffenen kein faires Verfahren und keine angemessene Entschädigung erhalten. So wurden vor den Spielen in Peking 2008 tausende Anwohner gezwungen, ihren Wohnsitz ohne ein rechtsstaatliches Verfahren mit wirksamer Beteiligung und angemessener Entschädigung aufzugeben. Anwohner, die gegen die Zerstörung ihrer Häuser demonstrierten, wurden verhaftet. Auch in Sotschi gab es schwere Missstände, was faire Gerichtsverfahren und Entschädigungen betrifft.
Wenn für Eröffnungsfeiern, Fußballspiele, Schwimmwettbewerbe oder andere Wettkämpfe riesige Stadien gebaut werden, wird der Großteil der Arbeit allzu oft von entrechteten und ausgebeuteten Arbeitsmigranten geleistet, die unter gefährlichen Arbeitsbedingungen, extrem langen Arbeitszeiten und der Einbehaltung ihrer Löhne leiden.
Große Infrastrukturprojekte ziehen häufig den Widerstand von Umweltschützern und anderen Betroffenen auf sich. Sowohl die Vorbereitungen der Spiele in Peking als auch in Russland waren davon gekennzeichnet, dass Bürger- und Menschenrechtler zum Schweigen gebracht wurden. Statt der versprochenen Fortschritte bei den Menschenrechten kam es in der Zeit vor den Sommerspielen in Peking zu unzähligen Inhaftierungen bzw. der Verhängung von Hausarrest gegen Aktivisten, die Olympia kritisiert hatten (darunter auch Sacharowpreisträger Hu Jia). In Russland wurde ein Umweltschützer zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. In Peking wurden Bürger verhaftet, die die offiziell ausgewiesenen „Olympischen Protestzonen“ nutzten, wo die Regierung friedliche Proteste angeblich zulassen wollte, etwa im Fall des der 59-jährigen Ji Sizun. In Sotschi wurden Mitglieder der feministischen Punkgruppe Pussy Riot bei einer Protestaktion am Rande der Winterspiele im Februar 2014 von Mitgliedern einer Bürgerwehr („Kosaken“) angegriffen und geschlagen, während die Polizei tatenlos zusah.
Die Olympische Charta garantiert ausdrücklich Pressefreiheit, schließlich ist der Verkauf von Sendelizenzen eine wichtige Einnahmequelle des IOC. Doch sowohl die Spiele in Peking als auch jene in Sotschi waren von der Bedrohung, Einschüchterung und Inhaftierung von Journalisten überschattet. Als im Jahr 2008 rund 25.000 internationale Journalisten nach China kamen, um über die Spiele in Peking zu berichten, stellten sie verwundert fest, dass Nachrichtenportale im Internet blockiert wurden. Erst nach massivem Drängen des IOC setzte China die Internetzensur für die Dauer der Wettkämpfe aus. Medienberichte über melaminvergiftete Milch in ganz China wurden bis zum Ende der Spiele zensiert. Mindestens sechs Säuglinge starben infolge solcher Vergiftungen (und des Verbots, darüber zu berichten). Im Vorfeld der Spiele in Sotschi belästigte, bedrohte und inhaftierte die russische Polizei zwei Journalisten eines norwegischen Fernsehsenders. Als sie die Tortur endlich überstanden hatten, erklärten die Beamten sarkastisch, man heiße sie „Willkommen in Sotschi“. Ihre Behandlung war derart ungeheuerlich, dass die Behörden sich offiziell entschuldigten – ein äußerst seltenes Vorkommnis.
Sportliche Großereignisse sollten eigentlich Augenblicke sein, in denen Vielfalt und menschliche Errungenschaften gewürdigt werden. Allzu häufig liefern sie jedoch einen Anlass für die Bloßstellung hässlicher Diskriminierung. Noch bis wenige Tage vor dem Beginn der Olympischen Spiele 2012 in London plante Saudi-Arabien, wie bei allen vorausgegangen Wettkämpfen, eine rein männliche Mannschaft zu entsenden. Gleiches war für die Asien-Spiele 2014 geplant. Erst durch massiven Druck von außen, etwa durch Initiativen wie die „Let Them Play“-Kampagne von Human Rights Watch, wurde das Land zum Einlenken bewegt und erlaubte schließlich zwei saudischen Frauen, an den Wettkämpfen teilzunehmen. Im eigenen Land, dies dokumentierte der im Jahr 2012 veröffentlichte Human Rights Watch-Bericht „Steps of the Devil“, verbietet die saudische Regierung weiterhin allen Mädchen die Teilnahme am Schulsport und es gibt keine Sportverbände, die Frauen vertreten. Beides verstößt klar gegen das Diskriminierungsverbot der Olympischen Charta.
Im Juni 2013 unterzeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin ein neues Gesetz gegen „Propaganda“, welches sich gegen Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender (LGBT) richtet. Es verbietet unter dem Vorwand des Kinderschutzes die Verbreitung von Informationen über Gleichheit, Toleranz und andere Belange von LGBT, dämonisiert sexuelle Minderheiten und LGBT-Aktivisten in der öffentlichen Wahrnehmung und führte zu einer Welle von Drohungen und gewaltsamen Übergriffen gegen Homosexuelle. Dennoch äußerte das IOC keine Bedenken, dass ein derartiges Vorgehen nicht mit der Verpflichtung zur Bekämpfung der Diskriminierung vereinbar sei.
In einigen Teilen der Welt dürfen Frauen nicht einmal als Zuschauer an Sportereignissen teilnehmen. Der gleichberechtigte Zugang zu Sportveranstaltungen ist zu einem ernstzunehmenden Problem geworden. So lässt der Weltfußballverband FIFA zu, dass Iran seit den 1980er Jahren weibliche Zuschauer vom Besuch von Fußballspielen ausschließt. Im Jahr 2012 weiteten die iranischen Behörden das Verbot auch auf Volleyballspiele aus.
Die iranische Jurastudentin Ghoncheh Ghavami wurde monatelang im berüchtigten Evin-Gefängnis inhaftiert, nachdem sie im Juni 2014 gegen den Ausschluss von Frauen von einem Spiel der Volleyball-Weltliga demonstriert hatte. Im November rief der Internationale Volleyballverband FIVB anlässlich seines Weltkongresses die iranische Regierung auf, Ghavami freizulassen, und bekräftigte sein Bekenntnis zur „Inklusivität und [zum] Recht von Frauen, gleichberechtigt am Sport teilzunehmen”. Der Verband wies darauf hin, dass die Politik des Iran dazu führen könnte, als Austragungsort künftiger internationaler Turniere nicht mehr berücksichtigt zu werden. Ghavami wurde Ende November auf Kaution freigelassen, zuvor jedoch von einem Revolutionsgericht wegen „staatsfeindlicher Propaganda“ für schuldig befunden und zu einem Jahr Haft verurteilt. Ghavamis Berufung gegen dieses Urteil ist derzeit anhängig.
Im November 2014 gab der Asiatische Volleyballverband bekannt, dass der Iran als gemeinsames Gastgeberland für die Asienmeisterschaften 2015 im Männer-Volleyball ausgewählt worden sei. Ghavamis Verurteilung und der fortdauernde Ausschluss weiblicher Zuschauer von allen Männer-Wettkämpfen im Iran sollten die internationalen Sportverbände veranlassen, alle wichtigen Turniere so lange nicht in entsprechende Länder zu vergeben, bis Frauen dort das Recht erhalten, als Zuschauer an allen Spielen teilzunehmen, ohne mit Verhaftung und Gefängnis rechnen zu müssen.
Position beziehen, Reformen umsetzen
In der Vergangenheit reagierte das IOC oft erst auf die von Human Rights Watch und anderen Organisationen dokumentierten Menschenrechtsverletzungen, als es in der Presse heftige Kritik einstecken musste. Auf frühere Skandale etwa im Hinblick auf Doping, Umweltzerstörung, illegale Sportwetten oder Korruption hat das IOC mit konkreten Reformen reagiert, zu denen beispielsweise die Einrichtung von Umweltverträglichkeitsprüfungen, einer Anti-Doping-Agentur und einer Begrenzung der Amtszeit im IOC-Vorstand gehörten.
Im vergangenen Jahrhundert hatte das IOC zur Bekämpfung der Diskriminierung im Sport beigetragen, indem es etwa das Südafrika der Apartheit-Ära für die Aufstellung rein hellhäutiger Mannschaften suspendierte oder Afghanistan während der Taliban-Herrschaft wegen der Diskriminierung von Frauen und Mädchen ausschloss. Unter dem Eindruck von Demonstrationen, die in einem Blutvergießen hätten enden können, drohte das IOC Südkoreas Militärdiktatur mit dem Entzug der Olympischen Spiele 1988 in Seoul, falls die Führung keine Wahlen abhalte. (Südkorea ist seither eine verlässliche Demokratie und wird die Olympischen Winterspiele 2018 austragen.)
Das Internationale Olympische Komitee und die FIFA sind die beiden wichtigsten Akteure auf dem Gebiet der sportlichen Großereignisse. Sie müssen diese Krise nutzen, um noch vor den nächsten Olympischen Spielen und der nächsten Fußballweltmeisterschaft konkrete Reformen umzusetzen.
Im Herbst 2014 griff IOC-Präsident Thomas Bach eine Reihe von Reformschritten auf, die Human Rights Watch seit langem empfohlen hatte, um Menschenrechtsverletzungen entgegenzutreten. Dies könnte ein Zeichen sein, dass das IOC nicht länger bereit ist, mit Gastgeberländern zu kooperieren, in denen die Menschenrechte verletzt werden. Ab dem Jahr 2022 werden die IOC-Ausrichterverträge für Olympiastädte Klauseln zum Schutz der Menschenrechte und der Arbeiterrechte enthalten, auch im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot. Die Verträge wurden bislang überwiegend geheim gehalten und enthielten keinen ausdrücklichen Schutz der Menschenrechte.
Der Erfolg dieser Vertragsreformen wird davon abhängen, wie ernst das IOC es mit ihrer Durchsetzung meint. Indem Thomas Bach das Staffelholz der Reformen wieder aufgreift, welches sein Vorgänger fallengelassen hatte, könnte er eine neue Ära einläuten, in der schweren Menschenrechtsverletzungen im Umfeld sportlicher Großereignisse mit „Null Toleranz“ begegnet wird.
Russlands Olympische Spiele, die von absolut vorhersehbaren Menschenrechtsverletzungen überschattet wurden, waren möglicherweise ein Wendepunkt. Wie Human Rights Watch in dem 2013 erschienen Bericht „Race to the Bottom“ dokumentiert hat, wurden viele Arbeitsmigranten, die die Infrastruktur für die Spiele errichteten, missbraucht und um ihre Löhne betrogen. In einigen Fällen wurden Arbeiter, die sich beschwerten, geschlagen und abgeschoben. Das IOC brachte diese Fälle schließlich bei den russischen Behörden zur Sprache. Diese räumten ein, dass noch 8 Millionen US-Dollar an Löhnen ausstanden, und versprach, dafür zu sorgen, dass die Arbeitgeber diese auszahlten. Russlands LGBT-feindliche Gesetzgebung führte weltweit zu Protesten von Spitzensportlern und zu negativer Berichterstattung in erheblichem Umfang. Im September 2014 rügte das IOC Russland nachträglich, indem es eine Antidiskriminierungsklausel in seinen Ausrichtervertrag für künftige Olympiastädte aufnahm und im Dezember einstimmig beschloss, „sexuelle Orientierung“ ausdrücklich als Kriterium für den Schutz vor Diskriminierung im 6. Prinzip der Olympischen Charta festzuschreiben.
Künftige risikoreiche Gastgeber
Die FIFA stand völlig zu Recht im Brennpunkt der Kritik, nachdem sie die Fußballweltmeisterschaft 2022 an Katar vergeben hatte, ohne eine Reform der dortigen Arbeiterrechte zur Voraussetzung zu machen. Infolgedessen bleiben die Arbeitsmigranten, die auf den Baustellen der Fußballstadien und anderer milliardenschwerer Infrastrukturprojekte arbeiten, Praktiken wie Menschenhandel und Zwangsarbeit nahezu schutzlos ausgesetzt.
Der „Hohe Ausschuss für Katar 2022“, das quasi-staatliche Veranstaltergremium, hat versprochen, die Arbeitsbedingungen auf Baustellen, die im direkten Zusammenhang mit der WM stehen, zu verbessern.
Dennoch hat Katar sich nicht verpflichtet, ausbeuterische Gesetze wie das Kafala-System zu reformieren, welches Arbeitnehmer faktisch an ihren Arbeitgeber fesselt. Das Land weigert sich ebenso, sein unsinniges und absolut illegitimes System der Ausreisevisa abzuschaffen, durch das viele Arbeiter in Katar festsitzen. Ebenso fehlt ein Plan, um die systematische Konfiszierung der Pässe von Arbeitsmigranten und die Erhebung illegaler Vermittlungsgebühren zu beenden.
Das ölreiche Aserbaidschan, wo die Regierung vor kurzem führende Menschenrechtler inhaftieren ließ, wird im Jahr 2015 in Baku die ersten „Europaspiele“ ausrichten. (Leiterin des Organisationskomitees ist die Präsidentengattin Mehriban Aliyeva.)
Die Europaspiele werden von den europäischen Nationalen Olympischen Komitees organisiert, weshalb auch für sie die Menschenrechtsprinzipien der Olympischen Charta gelten sollten. Trotz des erklärten Ziels „die Olympischen Ideale, wie in der Olympischen Charta definiert, in ganz Europa [zu] verbreiten“ gehen die aserbaidschanischen Behörden hart gegen Kritiker vor, blockieren ausländische Spenden an unabhängige Organisationen oder frieren deren Konten ein und bedrohen oder inhaftieren Journalisten und Social-Media-Aktivisten.
Die Veranstalter der Europaspiele sollten sich dringend mit der unschönen Vorgeschichte des Eurovision Song Contest 2012 beschäftigen, der in Aserbaidschan stattfand: Damals war das Klima für politische Aktivisten und unabhängige bzw. oppositionelle Journalisten akut feindselig geworden; Kritiker wurden inhaftiert, Demonstrationen aufgelöst und Aktivisten verhaftet. Die Verhaftung von Khadija Ismayilova, der führenden Investigativjournalistin und schärfsten Regierungskritikerin des Landes, im Dezember 2014 ist ein vernichtender Schlag gegen Andersdenkende in Aserbaidschan und ein klarer Verstoß gegen den Schutz der Pressefreiheit, wie ihn die Olympische Charta fordert.
Worte und Wirklichkeit
Die Olympische Charta erklärt: „Die Ausübung von Sport ist ein Menschenrecht.“ Sie unterstreicht das Prinzip der Menschenwürde und führt aus: „Ziel des Olympismus ist es, den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung des Menschen zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist.“ Auch die FIFA-Statuten betonen den „humanitären Stellenwert des Fußballs“ und bestimmen: „Jegliche Diskriminierung eines Landes, einer Einzelperson oder von Personengruppen aufgrund von Rasse, Hautfarbe, ethnischer, nationaler oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand, sexueller Orientierung oder aus einem anderen Grund ist unter Androhung der Suspension und des Ausschlusses verboten.“
Das Problem, dem sich IOC und FIFA stellen müssen lautet: Wie lässt sich die Kluft zwischen diesen gefälligen Worten und der hässlichen Realität vor Ort schließen?
Ein Antwort wäre, in den Ausrichtungsprozess ein Menschenrechtsmonitoring zu integrieren, also eine Bewertung der Fortschritte bei Pressefreiheit und internationalen Menschenrechtsnormen, genauso wie sie bereits beim Bau von Skisprungschanzen, Schwimmhallen oder Reitanlagen rechtzeitig vorgenommen wird. Ähnliche Veränderungen sind auch in den Statuten der FIFA erforderlich, damit die glanzvollen Fußballarenen nicht auf dem Rücken von Arbeitsmigranten gebaut werden, die für Hungerlöhne unter gefährlichen Bedingungen schuften.
Das IOC betreibt einen gewaltigen Aufwand, um potentielle Austragungsorte zu evaluieren. Mit derselben Akribie sollten auch öffentlich verfügbare Informationen über Menschenrechtsverletzungen ausgewertet werden, insbesondere wenn sie mit der Olympiabewerbung in Verbindung stehen. Sportfans wollen nicht in Stadien jubeln, deren Bau nicht nur Millionen von Dollars, sondern auch Dutzende Menschenleben gekostet hat. Mithilfe der Sozialen Medien kann die Nachricht über einen Goldmedaillengewinn in Sekundenschnelle die ganze Welt erreichen. Ebenso schnell können sich aber auch Bilder von Wasserwerfern und blutenden Demonstranten verbreiten.
Die Auswahl künftiger Gastgeberländer sollte eine vollständige und aussagekräftige Prüfung der Bereitschaft ihrer Regierungen beinhalten, die Menschenrechte in Übereinstimmung mit internationalen Normen und den „Grundlegenden Prinzipien“ der Olympischen Charta zu achten. Diese Standards lassen sich leicht in die IOC-Musterbewerbung für Olympiaanwärter aufnehmen. Um ihre Einhaltung zu begünstigen und für größtmögliche Transparenz zu sorgen, sollten zudem die Ausrichterverträge mit den Olympiastädten öffentlich gemacht werden.
Für alle künftigen sportlichen Großereignisse sollte die Evaluierung von Kandidaten konkrete Prüfkriterien („Benchmarks“) für die Einhaltung der Menschenrechte enthalten. Dazu gehören Medien- und Internetfreiheit, faire Entschädigungen bei Zwangsräumungen, Arbeitnehmerrechte beim Bau der Sportstätten, der Schutz von Aktivisten und friedlichen Demonstrationen sowie der Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Rasse, Religion, Weltanschauung, Geschlecht, Nationalität, Behinderung, sexueller Identität oder Genderidentität.
Sportverbände dürfen Wettkämpfe nicht an Staaten vergeben, in denen Frauen als Zuschauer nicht willkommen sind oder befürchten müssen, angegriffen oder verhaftet zu werden, wenn sie ihr Team anfeuern. Die Verbände können und müssen eine positive Rolle im Kampf gegen Diskriminierung spielen, indem sie darauf bestehen, dass Frauen den gleichen Zugang zu Turnieren und sportlichen Großereignissen erhalten wie Männer. Solche Veranstaltungen dürfen nicht stattfinden, wenn ein Land nur männliche Zuschauer zulässt, wie etwa der Iran. Die führenden Sportfunktionäre müssen öffentlich klarstellen, dass sie keine Gastgeberländer unterstützen werden, die gegen Grundprinzipien des Sports verstoßen.
Es ist an der Zeit, für gleiche Wettbewerbsbedingungen zu sorgen und den hohen menschlichen Preis, den die Vergabe großer Wettkämpfe an repressive Regierungen fordert, nicht länger zu bezahlen. Durch die „Agenda 2020“, die erstmals auch Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte enthält, hat IOC-Präsident Bach einen ersten, längst überfälligen Schritt in diese Richtung gemacht. Jetzt müssen die FIFA und andere internationale Sportverbände nachziehen und für Reformen sorgen. In einem Land, in dem schwere Menschenrechtsverletzungen stattfinden, kann eine Sportveranstaltung niemals wirklich erfolgreich sein.
Minky Worden ist Direktorin für Globale Initiativen bei Human Rights Watch.