(Beirut, 8. Dezember 2011) – Die im Jemen weitverbreitete Kinderehe gefährdet den Zugang zu Bildung, schadet aber auch der Gesundheit der Mädchen und bewirkt, dass diese weiter als Menschen zweiter Klasse behandelt werden, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Regierung Jemens soll das gesetzliche Mindestalter für Eheschließungen auf 18 Jahre festlegen, um die Chancen für Mädchen zu verbessern und ihre Menschenrechte zu wahren.
Der 54-seitige Bericht „‚How Come You Allow Little Girls to Get Married?‘: Child Marriage in Yemen“ dokumentiert die lebenslangen negativen Auswirkungen für Mädchen, wenn sie sehr jung zwangsverheiratet werden. Jemenitische Mädchen und Frauen berichteten Human Rights Watch, dass sie als Kind von ihren Familien zur Heirat gezwungen wurden und dann keinen Einfluss mehr auf wichtige Bereiche ihres Lebens hatten, beispielsweise ob und wann sie Kinder bekommen. Sie sagten, dass sie aufgrund ihrer frühen Heirat die Schule abbrechen mussten, manche berichteten von Vergewaltigung in der Ehe und häuslicher Gewalt. Es gibt im Jemen kein gesetzliches Mindestalter für Eheschließungen bei Mädchen. Viele Mädchen werden zum Teil schon mit acht Jahren zwangsverheiratet.
„Durch die politische Krise im Jemen stehen Themen wie die Kinderehe jetzt an letzter Stelle der Prioritätenliste“, so Nadya Khalife, Nahost- und Nordafrika-Expertin für Frauenrechte bei Human Rights Watch. „Aber es ist an der Zeit, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen und das Mindestalter für Eheschließungen auf 18 Jahre festzulegen, damit Mädchen und Frauen, die eine wichtige Rolle in der jemenitischen Protestbewegung gespielt haben, die Zukunft des Landes mitgestalten können.“
In den vergangenen Monaten wurde bei Demonstrationen eine ganze Reihe von Reformen gefordert, darunter auch Maßnahmen, um die Gleichstellung von Frauen und Männern zu gewährleisten. Die Reformen sollen sich vorrangig auf das Verbot der Kinderehe als wesentliche Ursache für Diskriminierung und Missbrauch von Mädchen und Frauen konzentrieren, so Human Rights Watch.
Angaben der jemenitischen Regierung und der Vereinten Nationen zufolge werden etwa 14 Prozent der Mädchen im Jemen vor ihrem 15. Lebensjahr und 52 Prozent vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. In ländlichen Gegenden werden sie zum Teil schon mit acht Jahren verheiratet. Manchmal werden die Mädchen mit einem wesentlich älteren Mann zwangsverheiratet. Jungen werden nur selten als Kinder zur Ehe gezwungen.
Der Bericht beruht auf Untersuchungen, die im August und September 2010 in Sanaa, der Hauptstadt des Jemen, durchgeführt wurden. Mehr als dreißig Mädchen und Frauen, die als Kind verheiratet wurden, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und Mitarbeiter des Gesundheits- und Bildungsministeriums wurden für den Bericht befragt.
Magda T. (Name aus Sicherheitsgründen geändert) sagte gegenüber Human Rights Watch: „In der sechsten Klasse ging ich von der Schule, um zu heiraten. Wenn ich mir jetzt meine Tochter ansehe, frage ich mich, wer sie unterrichten soll. Ich selbst kann es nicht. [Wie wichtig Bildung ist,] habe ich erst später verstanden.“
Ein 16-jähriges Mädchen berichtete Human Rights Watch: „Mein Vater bestand darauf, dass ich heirate. Ich wollte aufs Gymnasium und Rechtsanwältin werden. Aber dafür ist es jetzt zu spät, weil ich ein Kind erwarte.“
Human Rights Watch befragte Mädchen, die nach eigenen Angaben gezwungen worden waren, jung zu heiraten, sowie einige Mädchen, die kurz nach Beginn der Pubertät die Schule beenden mussten. Laut einer Studie aus dem Jemen nehmen viele Eltern in den ländlichen Gegenden Mädchen mit neun Jahren von der Schule, damit sie im Haus mithelfen und sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern, manchmal auch, um zu heiraten. Fast alle befragten Mädchen und Frauen gaben an, dass sie die Schule nach der Hochzeit nicht weiter besuchen und beenden konnten, viele bekamen kurz nach der Eheschließung Kinder.
Aus Untersuchungen von Kinderrechtsorganisationen wie Save the Children geht hervor, dass Mädchen mit geringer Bildung und Durchsetzungsvermögen in der Ehe kaum selbst entscheiden können, wann und wie viele Kinder sie zur Welt bringen – ein Umstand, der ein erhöhtes Risiko für ihre reproduktive Gesundheit darstellt.
Die Mädchen und Frauen gaben außerdem an, dass sie oft geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind, einschließlich häuslicher und sexueller Gewalt. Zum Teil werden sie von ihrem Ehemann, den Schwiegereltern oder anderen Mitgliedern im Haushalt des Ehemannes beschimpft oder tätlich angegriffen. Im Jemen leben verheiratete Mädchen und Frauen meist in der erweiterten Familie des Mannes.
Die jemenitische Aktivistin Tawakkol Karman, die am 10. Dezember 2011 gemeinsam mit zwei Liberianerinnen in Oslo den Friedensnobelpreis für ihren Einsatz für Frauenrechte erhält, kritisierte die jemenitische Regierung, weil sie sich nicht für ein Verbot der Kinderehe ausgesprochen hat. In einem 2010 veröffentlichten Gastkommentar schrieb Karman: „Unser islamisches Recht bietet genügend Interpretationsspielraum, um sich auf ein Mindestalter für Eheschließungen auf 18 Jahre zu einigen.“
Die künftige jemenitische Regierung hat nun die Gelegenheit, ihr Engagement für die Gleichstellung von Frauen und Männern tatsächlich unter Beweis zu stellen und die Rechte aller Bürger zu wahren. Die Regierung soll Maßnahmen ergreifen, um das gesetzliche Mindestalter für Eheschließungen auf 18 Jahre festzulegen und die Öffentlichkeit für die negativen Folgen der Kinderehe zu sensibilisieren. Die jemenitische Regierung und internationale Geber sollen Mädchen und Frauen außerdem einen besseren Zugang zu Bildung und zu Leistungen und Informationen im Bereich der reproduktiven Gesundheitsversorgung ermöglichen und sie besser vor häuslicher Gewalt schützen.
„Internationale Geber investieren Millionenbeträge in die Bildungs- und Gesundheitsreform im Jemen“, so Khalife. „Aber solange es kein Verbot der Kinderehe gibt, wird die internationale Hilfe weder verhindern, dass die Mädchen gezwungen werden, die Schule vorzeitig zu beenden, noch wird sie sie vor den gesundheitlichen Risiken schützen, die mit der Kinderehe einhergehen.“
Tatsächlich ist es so, dass die jemenitische Regierung in dieser Frage Rückschritte gemacht hat, so Human Rights Watch. Im Jahr 1999 hat das jemenitische Parlament das gesetzliche Mindestalter für Eheschließungen, das damals für Mädchen wie für Jungen bei 15 Jahren lag, aus religiösen Gründen aufgehoben. 2009 sprach sich eine Mehrheit im Parlament dafür aus, das Mindestalter auf 17 Jahre festzulegen. Eine Gruppe von Parlamentariern argumentierte jedoch, die Wiedereinführung eines Mindestalters stehe im Widerspruch zur Scharia. Sie machte sich ein parlamentarisches Verfahren zunutze, um den Gesetzentwurf auf unbestimmte Zeit zu vertagen.
In vielen anderen Ländern im Nahen Osten und in Nordafrika wird die Scharia als Rechtsquelle anerkannt. Dennoch gibt es in fast allen ein gesetzliches Mindestalter für Eheschließungen bei Jungen und Mädchen, das in den meisten Ländern bei 18 Jahren oder darüber liegt, gemäß den internationalen Normen und Übereinkommen, wonach jeder unter 18 Jahren als Kind gilt. Die Kontrollorgane der Vereinten Nationen zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und der Kinderrechtskonvention (KRK) empfehlen ein Mindestalter von 18 Jahren für Eheschließungen.
Jemen ist Vertragsstaat zahlreicher internationaler Übereinkommen und Konventionen, die die Kinderehe ausdrücklich verbieten und die Vertragsstaaten verpflichten, Maßnahmen zur Beendigung dieser Praxis zu ergreifen. Dazu gehören die Kinderrechtskonvention, die Frauenrechtskonvention, das Übereinkommen über die Erklärung des Ehewillens, das Heiratsmindestalter und die Registrierung von Eheschließungen, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
„Mädchen dürfen nicht gezwungen werden, Ehefrauen oder Mütter zu sein“, so Khalife. „Die verantwortlichen Politiker sollen den politischen Wandel im Jemen als Chance begreifen, um ein Unrecht zu korrigieren, das viel Schaden anrichtet. Sie sollen das Land auf den Weg der sozialen Gerechtigkeit bringen – dazu gehört auch die Gleichstellung von Frauen und Mädchen.“