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Zwei Jahre nach dem Arabischen Frühling scheint die Euphorie verflogen. Die aufregenden Tage der Proteste und des Triumphs wichen der Empörung über die Gräueltaten in Syrien, der Ernüchterung, dass die arabischen Monarchen gegen den Reformdruck weitgehend immun sind, der Befürchtung, dass die Islamisten als die größten Gewinner aus den Aufständen hervorgehen und die Rechte von Frauen, Minderheiten und Andersdenkenden einschränken könnten, sowie der Enttäuschung darüber, dass selbst in Ländern, in denen ein Regimewechsel stattgefunden hat, ein grundlegender Wandel nur langsam und zögerlich voranschreitet. So schwierig es auch ist, einem Unrechtsregime ein Ende zu setzen, am beschwerlichsten ist der Tag danach.

Kein Wunder, denn der Aufbau einer Demokratie, in dier die Menschenrechte geachtet werden, ist nach Jahren der Unterdrückung keine einfache Aufgabe. In Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion brachte das Ende des Kommunismus viele Demokratien, aber auch viele Diktaturen hervor. In Lateinamerika verlief die demokratische Entwicklung in den vergangenen zwanzig Jahren alles andere als linear. Die Fortschritte in Asien und Afrika waren uneinheitlich und unregelmäßig. Selbst die Europäische Union, die demokratische Reformen und die Achtung der Menschenrechte erfolgreich zur Voraussetzung für einen EU-Beitritt gemacht hat, hatte es schwerer, autoritäre Impulse zu unterbinden, sobald Länder wie Ungarn und Rumänien schließlich Mitglied wurden.

Zudem sind diejenigen, die den Sturz eines Autokraten bewirken konnten, oft gar nicht in der Lage, eine Regierungsmehrheit zu bilden. Wer die Kunst des Protestes beherrscht, eignet sich nicht zwangsläufig zum Regieren. Und diejenigen, die dabei geholfen haben, einen Despoten aus seinem Amt zu vertreiben, sind manchmal nicht die besten Verbündeten, um eine Gewaltherrschaft abzulösen.

Wer sich aber nach der guten alten Zeit der Diktatur zurücksehnt, sollte nicht vergessen, dass die Unwägbarkeiten der Freiheit kein Grund sein können, zur reglementierten Vorhersehbarkeit einer autokratischen Herrschaft zurückzukehren. Selbst wenn der noch zurückzulegende Weg Gefahren in sich birgt, ist die Alternative, ganze Völker einer düsteren Zukunft der Unterdrückung zu überlassen, schier undenkbar.

Der Aufbau eines Staates, in dem die Menschenrechte geachtet werden, ist vielleicht nicht so erhebend wie der Sturz eines Regimes, das diese missachtet. Wirksame Regierungsinstitutionen aufzubauen, unabhängige Gerichte ins Leben zu rufen, professionelle Polizeieinheiten zu bilden und Beamte dahingehend zu schulen, dass sie die Menschenrechte und die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit achten, kann mit viel Mühe und Anstrengung verbunden sein. Diese Arbeit ist jedoch unerlässlich, wenn Revolution mehr als nur ein Nebenaspekt von Unterdrückung sein soll.

Das vergangene Jahr bietet hier wichtige Lektionen für eine erfolgreiche Umsetzung, die nicht nur für die Länder des Arabischen Frühlings, sondern allgemein von Belang sind. Die Länder, in denen ein revolutionärer Umbruch stattgefunden hat, aber auch die internationale Gemeinschaft können aus diesen Lektionen lernen. Einige sollen im Folgenden genannt werden.

Die Hybris der Mehrheit vermeiden

Bei jeder Revolution besteht die Gefahr von Exzessen, eine Revolution im Namen der Demokratie macht da keine Ausnahme. Es ist nicht sonderlich überraschend, dass die Gewinner einer Revolution, die lange Zeit vom alten Regime unterdrückt wurden, von neuen Einschränkungen nichts wissen wollen, wenn sie sich einmal ihren Weg an die Macht gebahnt haben. Eine Demokratie, in der die Menschenrechte geachtet werden, unterscheidet sich jedoch vom uneingeschränkten Mehrheitsprinzip. So frustrierend es manchmal auch sein kann: In jeder Demokratie, die diesen Namen verdient, müssen die Präferenzen der Mehrheit an die Achtung der Rechte des Einzelnen und an rechtsstaatliche Prinzipien gebunden sein. Die Hybris der Mehrheit kann für das Entstehen einer echten Demokratie die größte Gefahr darstellen.

Als die neuen arabischen Regierungen an die Ausarbeitung neuer Verfassungen gingen, beabsichtigte keiner der wichtigen politischen Akteure, alle Rechte über Bord zu werfen. Aber anders als beispielsweise in Bosnien, Kenia, dem Südsudan und vielen lateinamerikanischen Ländern wurden in keine der Verfassungen in dieser Region internationale Menschenrechtsverträge integriert – der sicherste Weg, um Rückschritte zu vermeiden, weil man dadurch verwässerte Formulierungen umgehen und sich davor schützen kann, dass Rechte so interpretiert werden, wie die Situation es vermeintlich erfordert. Eine ganze Reihe von Verfassungen nimmt zumindest noch Bezug auf die Scharia. Im Wesentlichen steht das islamische Recht nicht im Widerspruch zu den internationalen Menschenrechtsstandards. Oft wird es aber so ausgelegt, dass die Rechte von Frauen und religiösen oder sexuellen Minderheiten gefährdet sind.

So darf die umstrittene, neue Verfassung des einflussreichsten Landes der Region, Ägypten, über die bei Redaktionsschluss in einem nationalen Referendum noch abgestimmt werden musste, als ein Musterbeispiel für diese Ambiguität gelten. Grundsätzlich werden die Menschenrechte darin bekräftigt, gleichzeitig aber Klauseln oder Maßnahmen eingeführt, die diese gefährden könnten. Die Verfassung beinhaltet einige positive Elemente wie das klare Verbot von Folter und willkürlicher Verhaftung – Menschenrechtsverletzungen, von denen Mitglieder der aktuell regierenden Muslimbruderschaft – vielleicht nicht ganz zufällig – unter dem ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak regelmäßig betroffen waren. In Artikel 2 werden die „Prinzipien“ der Scharia bekräftigt, eine Passage, die aus der vorigen Verfassung übernommen wurde und – im Gegensatz zu den vorgeschlagenen „Regeln“ der Scharia, die strenge Vorschriften beinhalten und keinen Raum für eine progressive Auslegung ließen – weitgehend so aufgefasst wird, dass sie mit den allgemeinen Rechtsvorstellungen in Einklang steht.

Allerdings gibt es in dem neuen Dokument bedenkliche Gesetzeslücken, die künftig zu Problemen führen könnten. Sämtliche Rechte sind an die Voraussetzung geknüpft, dass sie „Ethik, Moral und öffentliche Ordnung“ nicht untergraben dürfen – ein Gummiparagraf, wie er in Rechtsverträgen vorkommt, aber dahingehend interpretiert werden kann, dass diese Rechte gefährdet sind. Die Auslegung der Prinzipien der Scharia muss in Absprache mit Religionsgelehrten und in Übereinstimmung mit einer bestimmten Islamschule erfolgen, was unter Umständen Interpretationen ermöglicht, die mit internationalen Menschenrechtsstandards kollidieren. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird durch ein vage formuliertes Verbot der „Beleidigung einzelner Personen“ oder des Propheten eingeschränkt. Die Religionsfreiheit bezieht sich allein auf die abrahamitischen Religionen, was anscheinend jene ausschließt, die andere Religionen wie Bahai oder gar keine Religion ausüben. Offenbar behält die neue Verfassung der Armee das Recht vor, Zivilisten vor Militärgerichte zu stellen, „wenn sich ihre Verbrechen gegen die Streitkräfte richten“, wodurch dem Militär weiterhin ein breiter Ermessensspielraum eingeräumt wird. Eine Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts ist nicht ausdrücklich untersagt. Weiter heißt es, dass der Staat die Aufgabe hat, „die Pflichten der Frau bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf abzuwägen“ – möglicherweise eine Einladung dazu, die Freiheit von Frauen künftig einzuschränken. Ein vorgeschlagenes Verbot von Menschenhandel wurde verworfen, da einige Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung befürchteten, dass damit der Weg für minderjährige Mädchen aus Ägypten in den Persischen Golf zur Eheschließung versperrt würde. Auch von der Idee einer zivilen Kontrolle über die Interessen des Militärs – ob in Zusammenhang mit Straflosigkeit, Militärbudgets oder wirtschaftlichen Interessen – scheint man wieder abgekommen zu sein.

In der absehbaren Zukunft wird die rechtliche Lage in Ägypten daher prekär bleiben. Das wäre auch dann der Fall gewesen, wenn ein Verfassungsentwurf mit weniger Einschränkungen vorgelegt worden wäre, da jede Verfassung der Auslegung und Umsetzung bedarf. Die konstitutionelle Einschränkung vieler Rechte macht die Situation jedoch noch gefährlicher.

Trotz dieser Enttäuschungen müssen die Wahlverlierer an den demokratischen Prinzipien festhalten, auch wenn es Risiken birgt, da man vielleicht nicht unbedingt davon ausgehen kann, dass die Islamisten, wenn sie durch ihren Wahlsieg erst einmal an die Macht gelangt sind, diese nach einer Wahlniederlage auch wieder abgeben. Als das Militär in Algerien deshalb die Wahlen abbrach, bei denen sich ein Sieg der Islamisten abzeichnete, entstand in der Folge keine Demokratie. Vielmehr kam es zu einem fast zehn Jahre dauernden Bürgerkrieg, der zahllose Menschenleben gefordert hat. Was dabei unterschätzt wird, ist das wirkmächtige Zusammenspiel von lokalen Protesten und internationalem Druck, durch die sich mit vereinten Kräften neuerliche Versuche zur Monopolisierung der Macht bekämpfen ließen. Die Verfechter einer solchen Lösung haben eine schwere Bürde zu tragen, solange sie nicht mit Überzeugung sagen können, dass die Zukunftsaussichten unter einer gewählten islamischen Regierung so düster sind, dass eine Rückkehr zu einer dunklen Vergangenheit unweigerlich bevorsteht.

Genauso müssen die Wahlsieger der Versuchung widerstehen, jegliche Einschränkung von Rechten durchzusetzen, die von einer Mehrheit der Abgeordneten unterstützt werden. Das ist zum einen grundsätzlich wichtig, denn ein uneingeschränktes Mehrheitsprinzip ist keine Demokratie, zum anderen auch aus pragmatischen Gründen, denn wer die Wahlen heute gewinnt, kann sie morgen verlieren. Und es ist wichtig aus Gründen des Mitgefühls, denn selbst wer sich eine Wahlniederlage nicht vorstellen kann, sollte so viel Empathie haben, dass er das Recht des Unterlegenen auf persönliche Freiheit und Ziele anerkennt.

Die Rechte von Frauen schützen

Mit Etablierung der von Islamisten dominierten Regierungen des Arabischen Frühlings wird ihr Umgang mit Frauen künftig das vielleicht am besten geeignete Thema sein, um ihr politisches Handeln zu bewerten. Internationale Menschenrechtsstandards verbieten die Unterordnung von Personen nicht nur aus Gründen von Rasse, Ethnie, Religion und politischer Einstellung, sondern auch aus Gründen des Geschlechts. Dies bedeutet, dass Frauen nicht in eine untergeordnete, zweitrangige Rolle gezwungen werden dürfen. Genauso wird eine „komplementäre“ Rolle der Frau als Ersatz für Gleichberechtigung abgelehnt. Wie bereits erwähnt, gibt die ägyptische Verfassung hier allen Anlass zur Sorge. Und auch wenn das Oberste Verfassungsgericht Ägyptens die „Prinzipien“ der Scharia in der Vergangenheit fortschrittlich interpretiert hat, haben viele die Befürchtung, dass sich künftig konservativere Auslegungen durchsetzen.

Gegner von Frauenrechten stellen diese als ein vom Westen aufgezwungenes Konstrukt dar, das mit dem islamischen Glauben und der arabischen Kultur in Konflikt stünde. Rechte hindern Frauen freilich nicht daran, einen konservativen Lebensstil zu pflegen, wenn sie dies wünschen. Vielmehr bezieht sich der Vorwurf auf Situationen, in denen nationale oder lokale – zwangsläufig von Männern dominierte – Instanzen daran festhalten, dass Frauen, die Gleichberechtigung und Selbstständigkeit fordern, diese nicht haben können. Selbst wenn man diese Rechte als vom Westen aufgezwungen bezeichnet, kann das nicht die Tatsache verschleiern, dass Frauen dazu gezwungen werden, eine untergeordnete Rolle einzunehmen.

Dass Wachsamkeit angebracht ist, zeigt sich am Beispiel jener Regierung im Nahen Osten, die für die Unterordnung von Frauen im Namen des Islam wohl am bekanntesten ist: Saudi-Arabien. Ist Diskriminierung erst einmal gesetzlich verankert, wird Fortschritt ungemein schwierig. Das demonstrierte das Königreich, als es 2012, wenn auch nur widerwillig, Fortschritte auf dem Weg zur Anerkennung der Rechte von Frauen erkennen ließ: Auf öffentlichen Druck hin erteilte es zwei Sportlerinnen die Erlaubnis, im Olympischen Team anzutreten, obwohl Frauen und Mädchen im eigenen Land an den meisten Sportarten nicht teilnehmen dürfen. Saudi-Arabien kündigte an, Frauen dürften zum ersten Mal eine Zulassung als Rechtanwältinnen erwerben und Mandantinnen vor Gericht vertreten und in vier weiteren Wirtschaftszweigen arbeiten. All dies geschieht jedoch im Rahmen eines männlichen Vormundschaftssystems, das es Frauen untersagt, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds ins Ausland zu reisen, an einer Universität zu studieren, sich auf Arbeitssuche zu begeben, einen Betrieb zu führen oder bestimmte medizinische Eingriffe vornehmen zu lassen. In allen Bildungseinrichtungen und in den meisten Büros, Restaurants und öffentlichen Gebäuden gilt eine strikte Geschlechtertrennung, zudem dürfen Frauen noch immer nicht selbst Auto fahren.

Eine kleine Gruppe saudischer Frauen gab in sozialen Netzwerken klar zu verstehen, dass sie diese Einschränkungen als unerwünschte Vorschriften männlicher Autoritäten betrachten. Die saudische wie auch andere Regierungen müssen erkennen, dass viele Frauen weltweit – auch in ihren Ländern – den Wunsch nach Eigenständigkeit, Fairness und Gleichberechtigung teilen und dass Kultur, Tradition und Religion kein Grund sein können, ihnen diese Rechte vorzuenthalten.

Die Meinungsfreiheit schützen

Gewählte Mehrheiten neigen auch dazu, die Rechte anderer einzuschränken, wenn Äußerungen eine gewisse Grenze überschreiten, beispielsweise wenn Regierungschefs kritisiert, eine Rasse oder ethnische Gruppe verunglimpft oder religiöse Gefühle verletzt werden. Hier gibt es natürlich Einschränkungen, die gerechtfertigt sind. So sollten Äußerungen, die zu Gewalt anstacheln, durch die Justiz unterbunden und Hassparolen angefochten werden, indem man sie entkräftet und Aufklärung leistet. Insbesondere Politiker sollten von Äußerungen Abstand nehmen, die Intoleranz begünstigen.

Die Grenze zwischen Formulierungen, die zu Gewalt anstiften, und kontroversen Äußerungen hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab: Etwa davon, wie groß das Risiko ist, dass bestimmte Äußerungen zu Gewalt führen und ob die Polizei verhindern kann, dass es zu Ausschreitungen kommt. Gleichzeitig muss unterschieden werden zwischen jenen, die zu Gewalt anstacheln, und solchen, die gegen freie Meinungsäußerung vorgehen und Gewalt einsetzen, um diese zu unterdrücken und zu bestrafen. Und auch wenn das Völkerrecht Einschränkungen der freien Meinungsäußerung zulässt, wenn diese zu Hass und Feindseligkeit anstachelt, müssen diese Einschränkungen verhältnismäßig und gesetzlich verankert sein – Letzteres ist schon allein aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unerlässlich.

Wer strittige Äußerungen unterbinden will, beansprucht in der Regel die Moral für sich und begründet das damit, die höchsten Werte aufrechterhalten oder Zwietracht im Land verhindern zu wollen. Aber so werden solche Einschränkungen in der Regel nicht umgesetzt: Für gewöhnlich ist es der Stärkere, der die Meinungsfreiheit des Schwächeren unterdrückt. Als die pakistanischen Behörden ein zwölfjähriges, geistig behindertes Mädchen christlichen Glaubens der Blasphemie beschuldigten, waren die Wertevorstellungen des Koran, dessen Schändung ihr – zu Unrecht – vorgeworfen wurde, zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Den skrupellosen Anhängern der vorherrschenden Religion kam die schwache Position des Mädchens aber gerade gelegen, um sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Als indonesische Regierungsvertreter gegen Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft, einer religiösen Minderheit, wegen Gotteslästerung gerichtlich vorgingen, war die dort vorherrschende Religion zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Dennoch wurde eine muslimische Religionsgemeinschaft verfolgt, die in vielen islamischen Ländern als eine nicht den ethischen Grundwerten der Gesellschaft entsprechende Gemeinschaft angesehen wird. Ähnlich verhält es sich mit dem saudischen Jugendlichen, dem wegen Apostasie die Todesstrafe droht, weil er in einem Tweet seinen eigenen Glauben infrage gestellt hat.

Regierungen rechtfertigen die Verfolgung eines provokativen Redners manchmal mit der Begründung, er oder sie hätte eine gewaltsame Reaktion „provoziert“. Dies ist ein gefährlicher Ansatz. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was passiert, wenn Regierungen versuchen, Andersdenkende zu unterdrücken, indem sie behaupten, diese hätten eine gewaltsame Reaktion durch Regierungskräfte oder deren Verbündete provoziert. Sicherheitskräfte in Bahrain griffen beispielsweise friedliche Aktivisten an und verhafteten sie mit der Begründung, sie hätten die öffentliche Ordnung gestört. Wäre eine solche Auffassung von Provokation in Ägypten zum Tragen gekommen, wären die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz wahrscheinlich gleich zu Beginn aufgelöst worden. Wenn Menschen auf eine gewaltlose Rede mit Gewalt antworten, weil sie deren Inhalten nicht zustimmen, sind sie – und nicht der Redner – die Täter. Es ist die Pflicht des Staates, dieser Gewalt Einhalt zu gebieten und den dafür Verantwortlichen nicht ein faktisches Vetorecht einzuräumen, indem die gewaltlose Rede der Zensur unterworfen wird.

Die Rechte von Minderheiten achten: der Fall Burma

Das Problem des uneingeschränkten Mehrheitsprinzips betrifft aber nicht nur die Arabische Welt. Im vergangenen Jahr kam diese Problematik besonders anschaulich in Burma zum Ausdruck, als die seit Jahrzehnten etablierte Militärdiktatur in einem erstaunlichen Tempo zumindest erste Schritte für einen Übergang zu einer beschränkten Demokratie machte. Viele noch offene Fragen betreffen das Militär: Wird es seine verfassungsmäßig fest zugesicherten 25 Prozent der Sitze im Parlament aufgeben? Wird es eine zivile Kontrolle über sein Handeln und seine wirtschaftlichen Interessen billigen? Wird es alle politischen Häftlinge freilassen und 2015 freie Wahlen zulassen? Es ist gut nachvollziehbar, dass die führende Oppositionspartei Nationale Liga für Demokratie (NLD), an deren Spitze Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi steht, von solchen Fragen zu Macht und politischen Rechten umgetrieben wird.

Aber die NLD enttäuschte bislang durch ihre Zurückhaltung, sich über ihre eigenen Machtinteressen hinaus für die Rechte ethnischer Minderheiten einzusetzen. So appellierte sie nicht an das Militär, Kriegsverbrechen gegen die ethnische Kachin-Minderheit im Zuge der anhaltenden Aufstandsbekämpfung im Norden des Landes einzudämmen, geschweige denn, diese vor Gericht zu bringen. Noch gravierender ist, dass die NLD es ablehnte, die unerbittliche und gewaltsame Verfolgung der muslimischen Rohingya im Westen des Landes anzuprangern, von denen viele aufgrund eines diskriminierenden Staatsbürgerschaftsrechts staatenlos sind, obwohl sie aus Familien stammen, die seit Generationen in Burma leben. Dass Suu Kyi sich nicht für eine Minderheit eingesetzt hat, gegen die viele Burmesen tiefsitzende Vorurteile hegen, sorgte weltweit für Enttäuschung unter den Menschen, die ihr sonst so viel Bewunderung entgegenbringen.

Die Sanktionen des Westens haben eine Schlüsselrolle gespielt, um das Militär in Burma davon zu überzeugen, dass sich das Land ohne Reformen wirtschaftlich nie mit seinen Nachbarn im Verband Südostasiatische Staaten (ASEAN) messen, geschweige denn, sich aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit Chinas befreien kann. Trotzdem hoben die EU und die USA rasch ihre Sanktionen auf und führten Regierungsgespräche auf höchster Ebene, noch bevor konkrete Reformen – auch hinsichtlich des Schutzes verfolgter Minderheiten – umgesetzt wurden. Dadurch verloren sie beträchtlich an Einfluss, um ihre Forderungen zum Schutz der Rechte von Minderheiten und anderen benachteiligten Gruppen durchzusetzen.

Schwache Staaten mit mangelnder Rechtsstaatlichkeit unterstützen: der Fall Libyen

Genauso wie starke Staaten eine Gefahr darstellen können, wenn der Schutz der Grundrechte nicht gesichert ist, gilt das für schwache und zerfallende Staaten. Der Staat kann paradoxerweise nicht nur eine Bedrohung für die Menschenrechte darstellen, sondern er ist auch für ihre Verwirklichung notwendig. Um Not und Elend wie in Afghanistan oder Somalia zu vermeiden, sollte die Alternative zu einem repressiven Staat ein reformierter Staat sein und nicht einer, der sich in Auflösung befindet.

An keinem anderen Land des Arabischen Frühlings lässt sich die Problematik eines schwachen Staates besser darstellen als an Libyen. Jetzt, da das Land nicht mehr unter der repressiven Diktatur Gaddafis steht, leidet Libyen vor allem darunter, dass es an einer Regierung mangelt, die sich für die Achtung der Menschenrechte einsetzt und in der Lage ist, diese umzusetzen.

Zum Teil ist Gaddafi für dieses Vakuum verantwortlich: Er hielt Regierungsinstitutionen bewusst schwach, damit sie eine möglichst geringe Gefahr für ihn darstellten. Zum Teil ist diese Situation aber auch auf die NATO-Mächte zurückzuführen, die nach dem Sturz Gaddafis den Sieg verkünden und ihren Einsatz beenden wollten, anstatt sich ernstlich um die zwar weniger spektakuläre, dafür aber um so wichtigere Aufgabe des institutionellen Aufbaus zu bemühen und die notwendigen Mittel dafür bereitzustellen. Besonders drängend ist das Problem im Bereich der Rechtsstaatlichkeit. Die libysche Regierung hat noch nicht einmal ansatzweise das Gewaltmonopol inne. Eigenständig operierende Milizen herrschen weiterhin über viele Teile des Landes und begehen in einigen Regionen ungestraft schwere Verstöße gegen die Menschenrechte – Folter, bisweilen mit Todesfolge, ist weit verbreitet. Tausende Menschen befinden sich noch in Haft, darunter viele mutmaßliche Gaddafi-Unterstützer, die teils von der Regierung, teils von Milizen festgehalten werden. Für sie gibt es gegenwärtig wenig Aussicht auf eine Anklage, geschweige denn darauf zu erfahren, was an Beweismitteln gegen sie vorliegt. Der Fall von Saif al-Islam Gaddafi verdeutlicht das Problem. Libyen lehnte die Auslieferung des zweitältesten Gaddafi-Sohns an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ab und will stattdessen selbst für ein faires Gerichtsverfahren sorgen. Die Regierung kann jedoch nicht einmal sicherstellen, dass ihn die Milizen, in deren Gewahrsam er sich befindet, überstellen.

Gegen die Gräueltaten in Syrien vorgehen

Die Menschen in Syrien sind noch nicht in der glücklichen Lage, eine die Menschenrechte achtende Demokratie aufbauen zu können. Bei Redaktionsschluss kämpften Oppositionstruppen gegen die brutale Diktatur von Präsident Bashar al-Assad, während sich die Weltgemeinschaft ­– erfolglos – bemühte, das Abschlachten der Zivilbevölkerung durch Assads Truppen zu stoppen. Zehntausende wurden bereits getötet. Die führenden westlichen Regierungen und mehrere arabische Staaten verhängten Sanktionen, um den Gräueltaten der Regierung Einhalt zu gebieten. Russland und China blockierten jedoch mit ihrem Veto im UN-Sicherheitsrat mehrfach ein gemeinsames internationales Vorgehen.

Diese Obstruktionspolitik muss zwar Russland und China angelastet werden, andere Regierungen haben jedoch nicht genug Druck ausgeübt, damit Russland und China ihre indifferente Haltung angesichts der unzähligen Gräueltaten aufgeben. So erlaubten Großbritannien und Frankreich dem größten Waffenexporteur Russlands und einem der Hauptwaffenlieferanten Syriens, Rosoboronexport, seine Produkte auch weiterhin auf Messen in der Nähe von London und Paris zu präsentieren. Die USA kauften fast das gesamte Jahr 2012 über weiter Helikopter von Rosoboronexport, um sie in Afghanistan einzusetzen.

Die Überweisung des Falles Syrien an den IStGH durch den UN-Sicherheitsrat hätte dafür gesorgt, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und dazu beigetragen, weitere Gräueltaten zu verhindern. Viele westliche Regierungen haben zwar ein solches Vorgehen befürwortet, aber nicht den notwendigen Druck ausgeübt, um Russland und China dazu zu bewegen, dass dieser Schritt im UN-Sicherheitsrat beschlossen werden kann. So legte die EU erst im Dezember 2012 einen gemeinsamen Standpunkt formell fest; bei Redaktionsschluss war noch unklar, ob dies im Ergebnis dazu führen würde, dass durch intensive diplomatische Gespräche eine weltweite Koalition zugunsten einer Überweisung des Falles an den IStGH zustande kommt. Die Schweiz ist bisher das einzige Land, das diese Bemühungen vorantreibt.

Die Arabische Liga kündigte ihrerseits diverse Sanktionen gegen Syrien an, war aber anscheinend nicht in der Lage, einen Konsens mit allen Mitgliedstaaten zu finden, um die Sanktionen zu verhängen. Zudem konnte sie den Irak, Mitgliedstaat der Arabischen Liga, nicht dazu bringen, Waffentransporte aus dem Iran nach Syrien zu unterbinden.

Auch die führenden Mächte des Globalen Südens nahmen eine enttäuschend selbstgefällige Haltung ein. Bei vielen waren Bedenken laut geworden, dass das Vorgehen der NATO in Libyen über den bloßen Schutz der Zivilbevölkerung hinausging, um einen Regimewechsel herbeizuführen – Bedenken, die durch die Weigerung der NATO, über die Gründe für ihr Handeln zu diskutieren, noch verstärkt worden waren. Anscheinend entschlossen, einen Missbrauch des Sicherheitsmandats in Syrien zu vermeiden, haben führende Mitglieder des UN-Sicherheitsrates aus dem Globalen Süden wie Brasilien, Indien, Pakistan und Südafrika ihren Einfluss nie genutzt, um auf ein Ende der Gräueltaten in Syrien zu dringen. Sie alle enthielten sich zumindest bei einer der wichtigen Abstimmungen im Sicherheitsrat ihrer Stimme und gaben damit den Vetos von Russland und China politisch Rückhalt. Und anstatt auch an die Weltgemeinschaft zu appellieren, ihre Verantwortung weiter wahrzunehmen und die von Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedrohte Bevölkerung zu schützen, machte es sich Brasilien vor allem zur Aufgabe, das wichtige, aber eingeschränkte Konzept der „Responsibility while Protecting“ zu fördern, in deren Mittelpunkt die Maßnahmen und Verpflichtungen jener stehen, denen diese Aufgabe übertragen wird.

Die Erfahrungen mit Libyen zeigen, dass es selbst dann, wenn ein bewaffneter Konflikt noch im Gange ist, nicht zu früh ist, auf eine neue Regierung hinzuwirken, die Menschenrechte zu achten. Ein erster Schritt der internationalen Gemeinschaft könnte darin bestehen, die syrischen Rebellen zur Achtung der Menschenrechte aufzufordern, sprich keine Folter anzuwenden, Gefangene nicht hinzurichten und keine religiösen Konflikte zu schüren. Katar und Saudi-Arabien, die beiden Hauptwaffenlieferanten der Rebellen, stellten jedoch Waffen bereit, ohne ersichtliches Bemühen, Truppen, die gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen, nicht zu beliefern.

Die internationale Gemeinschaft sollte besonders bei Gräueltaten und Kampfhandlungen Aufmerksamkeit walten lassen, die religiöse Spannungen verschärfen; sie sind die größte Gefahr, dass die Gewalt nach einem möglichen Sturz des Assad-Regimes anhält. Die Rebellengruppen sollten nachdrücklich aufgefordert werden, ein Zukunftsbild für ihr Land zu propagieren, in dem Platz für alle Syrer ist, und einem Verhaltenskodex anzuerkennen und zu fördern, der die Verpflichtungen ihrer Truppen gemäß Kriegsvölkerrecht bekräftigt. Und wenn die Vertragsstaaten des IStGH darauf drängen, die Gräueltaten in Syrien vor den Gerichtshof zu bringen, sollten sie die Rebellenführer daran erinnern, dass das Gericht die Gräueltaten auf beiden Seiten untersuchen wird.

Leitsätze für die internationale Gemeinschaft

Der Übergang von einer Revolution zu einer Demokratie, in der die Menschenrechte geachtet werden, ist in erster Linie die Aufgabe der Bevölkerung des betreffenden Landes. Die internationale Gemeinschaft kann und soll aber maßgeblich Einfluss ausüben, um zu gewährleisten, dass ein solcher Umbruch erfolgreich ist. Allzu oft machen die Weltmächte jedoch ihren Einfluss nicht ausreichend geltend – oder geben sich mit weniger zufrieden als sie sollten –, weil sie andere Prioritäten haben. So waren die Regierungen der USA und der EU in ihrem Bestreben, Burma dem Einfluss Chinas zu entreißen, bereit, die neue Regierung mit offenen Armen zu begrüßen, bevor es zu echten Reformen kam. Ähnlich verhält es sich mit der US-Regierung, die eine Gefährdung der Menschenrechte in Ägypten herunterspielt, solange Kairo die amerikanische Politik gegenüber Israel unterstützt. Konstruktiver wäre das Vorgehen der internationalen Gemeinschaft, wenn Folgendes berücksichtigt würde:

Seinen Grundsätzen treu bleiben

Zum Glück haben wir schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt, seit die westlichen Mächte auf die Demokratieförderung verzichtet haben, nachdem die Islamisten bei den Wahlen in Ägypten und Gaza unerwartet gut abschnitten hatten. Dieses Mal war die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf den Sieg islamistischer Parteien stärker an Grundsätzen orientiert: Sie akzeptierte den Wahlsieg der Islamisten und legte ihnen gleichzeitig nahe, die international anerkannten Rechte zu achten. Das ist auch gut so, schließlich sind Wahlen ein wesentlicher – aber nicht hinreichender – Bestandteil der Demokratie.

Die Unterstützung von Demokratie und Menschenrechten in dieser Region war bis dato jedoch uneinheitlich. Im Falle von Regierungen wie Libyen oder Syrien, die bisher als Gegner galten, ist es dem Westen nicht schwergefallen, den Wunsch des Volkes nach Reformen zu unterstützen. Protestbewegungen in Ländern wie Ägypten und Tunesien, an deren Spitze verbündete Autokraten standen, wurden spät, am Ende aber doch aus Überzeugung unterstützt. Sobald es aber um Öl, Militärstützpunkte oder um den Staat Israel ging, wurde ein demokratischer Wandel nur zögerlich unterstützt.

So setzte sich der Westen für die Demonstranten in Bahrain, denen Haft, Folter und Tötung drohten, nur verhalten ein, weil man befürchtete, dadurch den Stützpunkt der 5. Flotte der US-Marine in Bahrain zu gefährden. Und Saudi-Arabien hatte Sorge angesichts der Entstehung einer Demokratie direkt vor der eigenen Haustüre, vor allem wegen der schiitischen Mehrheit in Bahrain und in Saudi-Arabiens ölproduzierender östlicher Provinz. Bei Redaktionsschluss befanden sich mehr als sechzig friedliche islamistische Aktivisten in den Vereinten Arabischen Emiraten willkürlich in Haft, ohne dass auch nur ein Wort des Protests zu hören gewesen wäre. Überall herrscht großes Händeringen über die Gefahren, die von den neugewählten Islamisten in Ägypten und Tunesien für Frauen und Minderheiten ausgehen. Für die institutionelle Unterdrückung von Frauen und die Diskriminierung religiöser Minderheiten in Saudi-Arabien hat man aber allenfalls ein Schulterzucken übrig. Marokkos Monarchie wird für ihre bescheidenen Reformen übertrieben gelobt, statt dass man sie zu weiteren Schritten auffordert. Das Signal, das hier ausgesendet wird, lautet: Der Westen ist bereit, arabische Autokraten, die westliche Interessen unterstützen, zu tolerieren, und springt erst dann auf den fahrenden Zug auf, wenn das Ziel fast erreicht ist.

Diese Prinzipienlosigkeit bleibt nicht unbemerkt. Die arabischen Aufstände ließen eine neue Solidarität unter den Völkern des Nahen Ostens und Nordafrikas entstehen, die authentischer ist als die abgedroschenen, nationalistischen Phrasen, wie sie manchmal von den Mubaraks und Gaddafis dieser Region ins Feld geführt werden. Doppelmoral wird heute schneller aufgedeckt und verübelt.

Gerechtigkeit nicht vergessen

Die neuen Regierungen müssen dafür sorgen, dass sich ihre Vertreter den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verpflichten, wenn sie mit der Straflosigkeit brechen wollen, durch die der Machtmissbrauch ihrer Vorgänger begünstigt wurde. Aber bisher unterstützte die internationale Gemeinschaft diese Bemühungen uneinheitlich, was zu Protesten zahlreicher repressiver Regierungen gegen selektive Gerechtigkeit geführt hat.

Je weniger damit gerechnet werden muss, dass Recht gesprochen wird, umso mehr wird die abschreckende Wirkung der Justiz untergraben.

So akzeptierte der UN-Sicherheitsrat ein Abkommen, das dem früheren Präsidenten Jemens, Ali Abdullah Salih, Straflosigkeit zusicherte. Auch in Libyen schien der Sicherheitsrat das Interesse an Gerechtigkeit verloren zu haben, sobald Gaddafi gestürzt war: Er versäumte es, eine Amnestie für Verbrechen zu verurteilen, die von libyschen Rebellen während des Sturzes der Diktatur begangen wurden. Als die UN-Generalversammlung bereit war, Palästina den Status eines Beobachterstaates zu verleihen, drängte Großbritannien die palästinensische Führung zu dem Versprechen, nicht dem IStGH beizutreten, da man offenbar befürchtete, die Palästinenser könnten Israel wegen seiner Siedlungen im Westjordanland oder Kriegsverbrechen im Gazastreifen vor den Gerichtshof bringen (wenngleich der Gerichtshof sich dann auch mit den Raketenangriffen der Hamas auf israelische Zivilisten befassen könnte).

Andernorts unterstützten die EU und die USA finanziell wie auch politisch den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) – mit beachtlichem Erfolg. Der UN-Sicherheitsrat hat hingegen noch immer keine Untersuchungskommission zu den Kriegsverbrechen sri-lankischer Regierungstruppen und separatistischer Tamil Tigers eingesetzt, die während der letzten Monate des bewaffneten Konflikts in 2008 und 2009 bis zu 40.000 zivile Opfer forderten. Wenig internationale Beachtung fand auch die Tatsache, dass sich der IStGH bisher ausschließlich auf die Gräueltaten verbündeter Truppen des gestürzten ivorischen Präsidenten Laurent Gbagbo konzentrierte, wodurch der Eindruck entstand, dass die Weltgemeinschaft die Verbrechen der Truppen des amtierenden Präsidenten Alassane Ouattara ignoriert. Die USA unternahmen größte Anstrengungen, damit Ruanda im UN-Sicherheitsrat nicht als maßgeblicher Unterstützer der M23-Rebellen im Ostkongo angeprangert wird oder gar Sanktionen gegen ruandische Regierungsvertreter, die sich an Verbrechen der Rebellengruppe mitschuldig gemacht haben, verhängt werden bzw. deren Strafverfolgung vorangetrieben wird (so wie auch der frühere Präsident Liberias, Charles Taylor, wegen Beihilfe und Unterstützung der Rebellen im benachbarten Sierra Leone verurteilt wurde). Westliche Regierungen – allen voran die USA – unterstützten Bemühungen von Präsident Hamid Karzai, um einen Bericht der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission über vergangene Gräueltaten von Warlords zu verhindern, von denen heute viele zu den Verbündeten Karzais zählen oder in der Regierung sitzen.

Mit den Menschen reden

Eine wichtige Lektion des Arabischen Frühlings ist, dass eine mobilisierte Öffentlichkeit zu einem positiven Wandel beitragen kann. Dennoch ziehen viele Regierungen in der Außenpolitik oft noch die stille Diplomatie hinter verschlossenen Türen der öffentlichen Stellungnahme vor. Soziale Netzwerke haben sich als wirksames Instrument erwiesen, die es dem Einzelnen ermöglichen, Repressionen publik zu machen und dagegen zu mobilisieren. Um diese neu entstandene Öffentlichkeit in ihre Reformbemühungen einzubeziehen, muss die internationale Gemeinschaft den Dialog mit ihr suchen. Vertrauliche Gespräche unter Regierungen sind wichtig, aber sie sind kein Ersatz für die Einbeziehung der Öffentlichkeit.

Selbst die Rechte achten

Man kann schlecht predigen, was man selber nicht tut. Dennoch weisen die Großmächte in Bereichen, die in den Ländern des Arabischen Frühlings von Relevanz sind, eine schlechte Menschenrechtsbilanz auf und verringern dadurch ihre Einflussnahme. So lassen sich Bestrebungen der USA, etwa in Ägypten die Verantwortlichen für Folter vor Gericht zu bringen, nur schwer durchsetzen, weil Präsident Barack Obama Ermittlungen wegen Folter gegen ehemalige Vertreter der Bush-Regierung ablehnt. Ihr eigenes Versagen, einen Großteil der Guantanamo-Häftlinge vor Gericht zu stellen oder freizulassen, hindert die US-Regierung daran, gegen Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren vorzugehen. Und auch die Bemühungen der USA zur Einschränkung willkürlicher Gewaltanwendung kollidieren mit dem Einsatz von US-Drohnen für gezielte Tötungen im Ausland, ohne dass dabei klare Grenzen artikuliert werden über deren Einsatz gemäß Kriegsvölkerrecht und den Normen der Rechtsdurchsetzung sowie über ein Verfahren zum Schutz gegen Missbrauch, das über die alleinigen Entscheidungen der Exekutive hinausgeht.

Das Problem sind nicht nur die USA. In Großbritannien wurde bisher kein Regierungsvertreter für die Beteiligung an der Auslieferung von Gaddafi-Gegnern nach Libyen, wo ihnen Folter drohte, zur Verantwortung gezogen. Ferner muss Großbritannien noch glaubwürdige Ermittlungen zu Vorwürfen einer Beteiligung an Folter in den USA in die Wege leiten. Die Bemühungen Europas zur Bekämpfung religiöser Spannungen werden aufgrund der eigenen Probleme beim Schutz der Rechte von Roma, Immigranten und anderen Minderheiten beeinträchtigt. Zudem untergraben Gesetze über die Verletzung religiöser Gefühle und die Leugnung des Holocaust die Bemühungen Europas zur Förderung der freien Meinungsäußerung. Einschränkungen in manchen europäischen Ländern im Hinblick auf das Tragen religiöser Kleidung und den Bau von Moscheen und Minaretten behindern wiederum die Bemühungen zur Förderung von Religionsfreiheit.

Die Türkei als Beispiel dafür zu nehmen, dass sich Demokratie mit einer islamistischen Regierungspartei verträgt, wird durch die Verfolgung von Journalisten im Land, die anhaltenden Restriktionen gegen die kurdische Minderheit, die andauernde Inhaftierung kurdischer politischer Aktivisten sowie starker Bedenken angesichts unfairer Gerichtsverfahren und der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz getrübt.

Auch die Menschenrechtsbilanz Indonesiens, einem Land, das oft als Beispiel für eine gelungene Verschmelzung von Demokratie und Islam angeführt wird, wird durch die Diskriminierung religiöser Minderheiten und die Straflosigkeit bei Verstößen des Militärs getrübt. Die Verfassung des Landes schützt die Religionsfreiheit, doch werden Regelungen gegen Blasphemie und das Missionieren routinemäßig herangezogen, um Atheisten, Angehörige der Bahai, Christen, Schiiten und Ahmadyyah-Muslime zu verfolgen. Es gibt etwa 150 Rechtsvorschriften, die die Rechte religiöser Minderheiten einschränken. Seit dem Amtsantritt von Präsident Susilo Bambang Yudhoyono im Jahr 2004 wurden mehr als 500 christliche Kirchen geschlossen. Die Regierung ging energisch gegen die der al-Qaida angegliederten Terrororganisation Jemaah Islamiyah vor, die für Anschläge auf Hotels, Bars und Botschaften verantwortlich ist. Da aber in der Regierungskoalition auch intolerante islamistische Parteien vertreten sind, unternahm die Regierung nichts gegen andere islamistische Milizen, die regelmäßig Verbrechen gegen religiöse Minderheiten begehen, über die die Öffentlichkeit wenig erfährt. Es gibt auch keine zivile Rechtsprechung für Soldaten mehr, die schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begehen. Diese Aufgabe obliegt nun einzig Militärgerichten, die selten einberufen werden, es an Transparenz mangeln lassen und schwere Verbrechen oft nur mit disziplinarischen Maßnahmen ahnden.

Aufkeimende demokratische Bestrebungen unterstützen

Russland und China erheben keinen Anspruch darauf, ein demokratisches Vorbild zu sein. Vielmehr wollen sie verhindern, dass sich die eigene Bevölkerung vom Arabischen Frühling anstecken lässt. Trotz des großen Einflusses dieser Länder sollte die internationale Gemeinschaft regelmäßig die Repressionen in diesen Ländern anprangern – im Interesse der russischen wie der chinesischen Bevölkerung, aber auch, weil ihr Beispiel autoritäre Herrscher in der ganzen Welt, die ähnliche Strömungen in ihren Ländern unterbinden wollen, zur Nachahmung ermutigt.

Der Kreml war offensichtlich beunruhigt, als zahlreiche Russen Ende 2011 gegen den mutmaßlichen Betrug bei der Parlamentswahl und Wladimir Putins Entscheidung für eine erneute Kandidatur um das russische Präsidentenamt demonstrierten. Die Proteste gaben damals Anlass zur Hoffnung auf einen Wandel und mehr Raum für freie Meinungsäußerung. Doch Putins abermalige Präsidentschaft ließ das Land wieder in autoritäre Strukturen zurückfallen. Das Resultat ist eine ganze Serie repressiver Gesetze und Methoden, die Angst einflößen sollen, um öffentlichen Widerspruch und weitere Proteste zu verhindern. Demonstrationsteilnehmer müssen künftig mit massiven Geldstrafen rechnen, Menschenrechtsorganisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, sind jetzt verpflichtet, sich als „ausländische Agenten“ zu registrieren, Verleumdung wird wieder strafrechtlich sanktioniert und die strafrechtliche Definition von Hochverrat ist nun so weit ausgelegt, dass es künftig ein Leichtes sein wird, internationale Advocacy-Arbeit zu unterbinden.

China reagierte während des sorgfältig kontrollierten Führungswechsels und der Übergabe der Parteiführung an Xi Jinping mit den eigenen Methoden auf einen drohenden „Jasmin-Frühling“ und eine wachsende Dissidentenbewegung. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den sozialen Netzwerken, die von der chinesischen Bevölkerung besonders intensiv genutzt werden. Schätzungen zufolge sind achtzig bis neunzig Prozent der 500 Millionen Internet-User Chinas in Netzwerken aktiv. Pekings berüchtigte Firewall ist dabei kaum von Nutzen, da chinesische Dissidenten nicht ausländische Webseiten als Inspirationsquelle nutzen, sondern die ihrer eigenen Landsleute. Die Regierung setzt beträchtliche Mittel ein, um die Diskussion „sensibler“ Themen zu unterbinden. Viele Chinesen haben jedoch neue Wege zur Umgehung der Internetzensur gefunden. Anlass zu der Annahme, dass die Nutzer sozialer Netzwerke dieses Katz-und-Maus-Spiel gewinnen werden, gibt die Tatsache, dass die Regierung bei diversen umstrittenen Aktionen einen Rückzieher machen musste, weil diese Gegenstand massiver Kritik geworden waren.

Trotz seiner enormen Ressourcen ist selbst China von privaten Internetfirmen abhängig, um den Erfolg seiner Zensurmaßnahmen weiter gewährleisten zu können. In der Arabischen Welt haben Regierungen leistungsstarke Online-Überwachungssysteme westlicher Unternehmen gegen Menschenrechtsverteidiger und mutmaßliche Dissidenten eingesetzt. Durch das Fehlen rechtlich bindender Instrumente gegen eine Mittäterschaft von Unternehmen bei solchen Bestrebungen zu Zensur und Online-Überwachung sind deren Aussichten auf Erfolg umso größer. Gleichzeitig wird das Potenzial von Internettechnologien, politische Reformen zu ermöglichen, unterwandert.

Fazit

Der Arabische Frühling nährt weiterhin die Hoffnung auf eine verbesserte Menschenrechtslage in einer der Regionen der Welt, die sich bisher als weitgehend resistent gegenüber demokratischen Entwicklungen erwiesen hat. Zugleich rückt er aber auch das Spannungsverhältnis zwischen Mehrheitsprinzip und Achtung der Menschenrechte in den Blickpunkt. Für die Menschen dieser Region – aber auch für die Weltgemeinschaft – ist es von enormer Bedeutung, dass dieses Spannungsverhältnis unter Einhaltung der internationalen Menschenrechtsstandards gelöst wird. Eine positive Lösung wird von den neuen Regierungschefs dieser Region große staatsmännische Leistungen verlangen. Sie wird aber auch eine konsequente, prinzipiengeleitete Unterstützung der einflussreichsten Akteure von außen erforderlich machen. Niemand behauptet, dass es sich dabei um ein einfaches Unterfangen handelt. Aber es wird auch niemand an der Dringlichkeit dieser Aufgabe zweifeln.

Der Arabische Frühling hat Menschen in der ganzen Welt inspiriert und viele dazu ermutigt, ihren autokratischen Herrschern die Stirn zu bieten. Ihr couragiertes Vorgehen ist richtungsweisend für die ganze Welt. Vieles hängt nun davon ab, dass dieser Präzedenzfall positiv gelöst wird – und als erfolgreiches Beispiel für die Bildung demokratisch gewählter Regierungen dient, die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit achten.

Kenneth Roth ist Executive Director von Human Rights Watch