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(Tunis, 21. Oktober 2010) - Die tunesischen Behörden sollen ihr willkürliches Vorgehen gegen unabhängige Gewerkschaften und Studentenorganisationen beenden, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Regierung hat sich geweigert, unabhängige Gewerkschaften anzuerkennen, deren Möglichkeit, sich friedlich zu treffen, eingeschränkt und Gewerkschaftsanhänger ohne Rechtfertigung verfolgt. Dadurch wurde der Handlungspielsraum stark begrenzt, in dem Gewerkschaften außerhalb jeglicher Regierungskontrolle agieren können. Die Regierung hat diese Eingriffe zurückgewiesen, doch Tatsachen widerlegen diese Behauptungen.

Der 62-seitige Bericht „The Price of Independence: Silencing Labor and Student Unions in Tunisia" dokumentiert das strikte Kontrollsystem der tunesischen Behörden über Gewerkschaften und ihre Anhänger. Besonders wird dabei das Schicksal von in Gewerkschaften organisierten Arbeitern, Studenten und Journalisten hervorgehoben, die die Regierungspolitik kritisiert haben.  

Die Regierung verweigerte Gewerkschaften die rechtliche Anerkennung, die das vorgeschriebene Registrierungsverfahren eingehalten haben, versperrte Mitgliedern den Zugang zu Versammlungen, verhinderte die Organisation von Veranstaltungen und verhaftete willkürlich Gewerkschaftsanhänger, von denen einige behaupten, sie wären von den Sicherheitskräften gefoltert worden. Die Regierung und ihre Verbündeten haben auch Journalisten eingeschüchtert und die Neubesetzung der Führung des unabhängigen Journalistenverbands arrangiert, mit einem Vorstand, der nur aus regierungsnahen Vertretern besteht.


„Kein Bereich der Zivilgesellschaft ist in Tunesien sicher vor Regierungseingriffen, nicht einmal die Gewerkschaften, wenn sie von der Regierung als Gefahr eingestuft werden", so
Sarah Leah Whitson, Leiterin der Abteilung Naher Osten und Nordafrika von Human Rights Watch. „Mit den Mitteln der Bürokratie bis hin zu Gewaltanwendung unterdrückt die Regierung die tunesischen Gewerkschaften."

Am 21. Oktober 2010 findet das Berufungsverfahren in Monastir zu einem Fall statt, bei dem ein Student nach einem friedlichen Sit-in des Landes verwiesen worden war.

Am 6. Oktober antwortete die tunesische Regierung ausführlich auf ein Memorandum zu Gewerkschaftsaktivitäten, das von Human Rights Watch eingereicht worden war. Human Rights Watch begrüßt das Engagement der Regierung zu dem Thema ebenso wie ein Treffen von Regierungsvertretern mit Human Rights Watch, um die Ergebnisse des Berichts zu besprechen.

In der Regierungsantwort, die in dem Bericht vollständig abgedruckt ist, bekräftigte die Regierung ihre Achtung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit. Demnach müssen Gewerkschaften lediglich einem Anmeldungsverfahren folgen, um sich registrieren zu lassen, für das keine Bestätigung der Regierung nötig sei. Gewerkschaften, die nicht anerkannt worden waren, hätten die erforderlichen Bescheide nicht eingereicht.


Die Regierung stellte auch die Darstellung von Human Rights Watch über die Entlassung des Vorstands des unabhängigen Journalistenverbands in Frage. Sie behauptete zudem, Aktivisten der Studentenvereinigung wegen allgemeiner Verbrechen verfolgt und verhaftet zu haben, und nicht wegen deren Gewerkschaftsarbeit.

Das Recht der Bürger, frei Gewerkschaften zu bilden und unabhängig von Regierungseingriffen zu handeln, ist in der tunesischen Verfassung und im Arbeitsrecht des Landes festgeschrieben. In der Praxis hat Human Rights Watch jedoch herausgefunden, dass die Regierung unabhängige Gewerkschaften einen Rechtsstatus verweigert, indem sie den Empfang der Antragsformulare nicht bestätigt. Dies betraf den tunesischen Journalistenverband Syndicat des journalistes tunesiens im Mai 2004 sowie die Conféderation général tunesiene du travail im Februar 2007. In beiden Fällen behauptet die Regierung, dass sie keine Erkenntnisse zu den Anträgen habe, obwohl die Gründungsmitglieder der Organisationen sagen, sie hätten die Anträge persönlich bei der zuständigen Stelle in Tunis abgegeben und weitere Kopien per Einschreiben gesendet. Die einzige registrierte Gewerkschaft neben der Union générale tunisienne du travail, dem Dachverband aller tunesischen Gewerkschaften, ist Syndicat national des journalistes tunisiens (SNJT).

„Die Regierung lehnt offenbar grundsätzlich die Idee unabhängiger Gewerkschaften ab, die außerhalb der Regierungskontrolle agieren", so Whitson. „Indem sie den Rechtsstatus aller Gewerkschaft verneinen, die außerhalb des nationalen Verbandes stehen, kontrolliert sie jegliche Gewerkschaftsarbeit."

Die jüngsten Erfahrungen von Syndicat national des journalistes tunisiens zeigen deutlich, wie die Regierung eingreift, um kritische Gewerkschaftsstimmen zum Schweigen zu bringen. Gegründet als unabhängige Gewerkschaft im Jahr 2008, hat der Verband im Jahr 2009 den Zorn der Regierung auf sich gezogen, als er einen kritischen Bericht über mangelnde Medienfreiheit veröffentlichte und sich weigerte, die Wiederwahl des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali zu unterstützen.

Journalisten beschrieben Human Rights Watch die anschließenden Manöver regierungsfreundlicher Kräfte, durch die unabhängige Vorstandsmitglieder verdrängt werden sollten, Mitglieder unter Druck gesetzt wurden, damit sie eine Petition unterschrieben, neue Vorstandswahlen gefordert und übereilte Wahlen organisiert werden sollten. Dies stellte eine Verletzung der Gewerkschaftssatzung dar. Regierungsfreundliche Kräfte gewannen schließlich geschickt.

In ihrer Antwort macht die Regierung unter Berufung auf ein Gerichtsurteil, welches den Wahltermin bestätigt, deutlich, dass die Wahlen in Übereinstimmung mit dem Gesetz durchgeführt wurden. Jedoch hat Human Rights Watch zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Journalisten schikaniert, eingeschüchtert und zur Aufgabe ihrer Arbeit gezwungen wurden, weil sie Widerstand leisteten, als die unabhängige Führung verdrängt werden sollte.


„Wenn der unabhängige Vorstand einer Gewerkschaft gezielt abgesetzt wird, weil er die Regierung kritisierte, so zeigt dies, wie weit die Regierung bereit ist zu gehen, um Dissidenten zum Schweigen zu bringen", so Whitson. 

Zudem ging die Regierung gegen Mitglieder der Studentenorganisation Union générale des étudiants tunisiens (UGET) vor. Tunesische Behörden haben die Aktivisten verfolgt, verhaftet und gefoltert. Nach einer friedlichen Studentendemonstration im Oktober 2009 in der Universität von Manouba wurden 17 Studenten zu Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren verurteilt, in einigen Fällen in unfairen Prozessen. Die Anklage lautete Zerstörung von Eigentum und Körperverletzung, für die es jedoch vor Gericht keine eindeutigen Beweise gab. Die Regierung bestreitet, dass die Demonstrationen stattgefunden haben, obwohl in den Medien davon berichtet wurde.

Einige der Angeklagten erklärten Human Rights Watch, dass sie in Haft von der Polizei gefoltert worden waren. Die Regierung bestreitet die Foltervorwürfe und sagte, sie seien es nicht Wert weiter verfolgt zu werden, da keiner der Studenten einen Antrag auf eine medizinische Untersuchung eingereicht hat. Monther El-Charni, einer der Anwälte der Studenten, berichtete Human Rights Watch, dass er im Auftrag eines Studenten einen Antrag auf eine medizinische Untersuchung gestellt hatte, dieser jedoch vom Gericht ignoriert wurde.

In einem anderen Fall im Februar 2010 verurteilte das Gericht in erster Instanz in Manouba fünf studentische Mitglieder des Verbands zu einem Jahr und acht Monaten Haft wegen Körperverletzung bei einer Besetzung des Instituts für Wirtschaft in Mahdia im Jahr 2007, die sich gegen ein Verbot der Universität richtete, durch das eine Hauptversammlung vor den UGET-Wahlen verhindert werden sollte. Die Regierung hatte keine eindeutigen Beweise, die die Anklagepunkte unterstützten.

Inhaftierte Studenten behaupten, dass die Polizei sie zwang, unter Folter Geständnisse zu unterschreiben. Das Gericht weigerte sich, diese Behauptungen weiter zu untersuchen. Die Hochschule hat die Studenten ausgeschlossen, sie wurden anschließend von der Polizei beobachtet und mindestens zwei von ihnen wurden mehrfach willkürlich inhaftiert. Im Februar 2009 gingen die Studenten für 85 Tage in den Hungerstreik, um gegen ihren Ausschluss zu protestieren. Ihre Berufung ist für den 21 Oktober festgelegt. 

„Durch das scharfe Vorgehen gegen die Studenten, die sich selbständig organisieren wollten, zeigt die Regierung - genau wie bei Aktivitäten von unabhängigen Gewerkschaften  - ihre Entschlossenheit friedliche Proteste zu ersticken, wo immer sie auch auftauchen", so Whitson.  

Human Rights Watch fordert die tunesische Regierung auf:

  • beim Innenministerium sicherzustellen, dass alle Anträge zur Gewerkschaftsbildung akzeptiert werden, ein Beleg ausgestellt und anerkennt wird, dass die Gewerkschaft im Einklang mit tunesischem Recht gebildet wurde.
  • polizeiliche Überwachungen und Schikane von Gewerkschaftsmitgliedern zu beenden, außer es liegen ausreichende Beweise für kriminelle Aktivitäten vor, die dies rechtfertigen. Zudem soll die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Gewerkschaftsmitglieder, einschließlich des Rechts auf öffentliche Veranstaltungen, ohne Einmischung von Polizei oder Sicherheitskräften gewahrt werden.
  • alle relevanten tunesischen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu ändern, einschließlich des Arbeitsrechts, um den Anforderungen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und der International Labor Organisation gerecht zu werden. Besonders soll Artikel 376 des Arbeitsrechts gestrichen werden, durch den der Gewerkschaftsdachverband jeden Streik genehmigen muss.
  • alle Vorwürfe über Folter und Misshandlung von Gewerkschaftsmitgliedern durch Sicherheitskräfte oder Strafverfolgungsbehörde umgehend und unabhängig zu untersuchen. Jeder Beamte soll unter Ausschöpfung aller Rechtsmittel von einem Gericht, das internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren genügt, verfolgt werden, wenn er nach der Beweislage Folter oder Misshandlung in Auftrag gegeben, selbst ausgeführt oder zugestimmt hat.
  • in allen Gerichtsverfahren sicherzustellen, einschließlich der Verfahren gegen Gewerkschaftsmitgliedern, dass sie fairen internationale Standards genügen. Dazu gehören der freie Zugang zu den Gerichten, die vollständige Offenlegung der Anklagepunkte, das Recht auf juristischen Beistand und das Recht auf Verteidigung.

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