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Afghanistan: Bomben und Drohungen gefährden Schulsystem

Schwache internationale Reaktionen nach Aufständen verhindern Ausbildung von Mädchen

(London, 11. Juli 2006) - Zunehmende Angriffe der Taliban und anderer bewaffneter Gruppen auf Lehrer, Schüler und Schulen gefährden in Afghanistan das Schulsystem. Erneut wird einer Generation der Zugang zu Bildung verweigert, sagt Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Schulen für Mädchen wurden besonders hart getroffen. Dies bedroht jene Fortschritte im Bildungsbereich, die seit dem Ende der Taliban 2001 erreicht worden sind.

In dem 142-seitigen Bericht “ Lessons in Terror: Attacks on Education in Afghanistan ” dokumentiert Human Rights Watch 204 Angriffe auf Lehrer, Schüler und Schulen seit Januar 2005. Aufgrund der Schwierigkeit, in Afghanistan Daten zu erheben, verharmlost diese Zahl das Ausmaß der Krise. Dennoch wird aber eine starke Zunahme von Anschlägen deutlich, da sich die Sicherheitslage in vielen Teilen des Landes verschlechtert hat. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres scheint es mehr Anschläge auf Bildungseinrichtungen gegeben zu haben als im gesamten Jahr 2005. Der Süden und der Südosten Afghanistans sind am stärksten den Bedrohungen ausgesetzt, aber auch in anderen Landesteilen wurden Schulen attackiert.

“Schulen werden von Bomben und Drohungen lahm gelegt, was erneut eine Generation afghanischer Mädchen daran hindert, eine Ausbildung zu erhalten, und ihnen Chancen auf ein besseres Leben verwehrt,” so Zama Coursen-Neff, Mitautorin des Berichtes. “Die Anschläge auf Schulen durch Taliban und anderer Gruppen, die die Zivilbevölkerung terrorisieren, sind Kriegsverbrechen und stellen eine Gefahr für Afghanistans Zukunft dar.”

Human Rights Watch berichtet über Gebiete, in denen alle Schulen wegen der Anschläge geschlossen sowie Lehrer und jene Nichtregierungsorganisationen vertrieben wurden, die im Bildungsbereich arbeiten. Die Unsicherheit, der soziale Widerstand in einigen Gebieten, Mädchen einen gleichberechtigten Zugang zur Bildung zu ermöglichen, und der Mangel an Ressourcen haben zur Folge, dass ein Großteil der Mädchen des Landes vom Schulsystem ausgeschlossen bleiben, trotz der Fortschritte, die in den vergangenen Jahren erzielt worden sind. In etwa einem Drittel des Landes gibt es keine Schulen für Mädchen.

Die Angriffe auf die Bildungseinrichtungen in Afghanistan sind Ausdruck einer dramatischen Wiederbelebung der bewaffneten Opposition gegen die Regierung und ihre internationalen Verbündeten. Darüber hinaus arbeiten die Taliban und andere bewaffnete Gruppen mit Mitteln wie Selbstmordattentate und Angriffe auf Entwicklungshelfer, auf die bislang in Afghanistan kaum zurückgegriffen wurde. Drohbriefe – man nennt sie “Nachtbriefe” – gegen Lehrer, Schüler und staatliche Mitarbeiter kommen jetzt weit häufiger vor als bisher.

Die Taliban und ihre Alliierten, wie der Kriegsherr Gulbuddin Hekmatyar, sind verantwortlich für viele, wenn auch nicht für alle Anschläge auf Schulen und Lehrer, die von Human Rights Watch untersucht wurden. In anderen Fällen haben auch lokale Kriegsherren Anschläge verübt, um ihre Macht zu vergrößern. In Afghanistan entstehen schnell wachsende kriminelle Netzwerke, viele davon sind in die Herstellung und den Handel von Rauschgift verwickelt, und sie gehen gegen Schulen vor, weil diese in vielen Gebieten das einzige Symbol der Autorität der Regierung darstellen.

“Die Taliban, lokale Machthaber und kriminelle Gruppierungen haben das gemeinsame Ziel, die Zentralregierung zu schwächen, indem sie mit einem Sturm von Gewalt Afghanistans Aufschwung und Wiederaufbau bedrohen,” sagt Sam Zarifi, Mitautor des Berichtes. “Diese Gruppen nutzen die Versäumnisse der internationalen Truppen in Sicherheitsfragen, um bei den Afghanen den Eindruck hervorzurufen, die Zentralregierung könne sie nicht schützen.”

Afghanistan hat nur einen Bruchteil jener finanziellen und friedenserhaltenden Unterstützungen erhalten, die dem Balkan und Osttimor in der Nachkriegsphase zuteil kamen, sagt Human Rights Watch. Die Truppen der NATO, die unter dem Mandat der Internationalen Sicherheitskräfte (ISAF)
stehen, wurden erst kürzlich in den Süden Afghanistans verlegt, obwohl dort die Unsicherheit und der bewaffnete Widerstand die größte Bedrohung darstellen. Sie ersetzen die US-Truppen, deren Mandat sich gegen die militärischen Operationen der Taliban richtete, aber nicht auf die Sicherheit des Volkes zum Ziel hatte.

“Vier Jahre lang hat die Internationale Gemeinschaft Afghanistan um seine Sicherheit gebracht, und die Taliban nutzen nun mit anderen bewaffneten Gruppierungen dieses Vakuum,” so Zarifi, Forschungsdirektor der Asienabteilung von Human Rights Watch. “Die Lage ist aber noch nicht hoffnungslos. Die Vereinigten Staaten und die NATO müssen zeigen, dass sie das Leben der afghanischen Bevölkerung sichern und verbessern können und werden.“

Human Rights Watch ruft die bewaffneten Gruppen, auch die Taliban und Hezb-e Islami, auf, die Anschläge auf die Zivilbevölkerung und auf zivile Einrichtungen, insbesondere auf Lehrer, Schüler und Schulen, sofort einzustellen. Die Organisation fordert zudem die Regierung Afghanistans, die NATO und die von Vereinigten Staaten geführte Koalition dazu auf, eine Sicherheitspolizei aufzustellen, die sich ausschließlich an den Bedürfnissen der Afghanen orientiert. Mit internationaler Unterstützung muss die afghanische Regierung eine Strategie finden, um die Anschläge auf das Bildungssystem zu überwachen, sie zu verhindern und umgehend darauf reagieren zu können. Zumindest aber sollten die Anschläge dokumentiert und die gefährdeten Schulen identifiziert und geschützt werden. Auch soll Afghanistans machtlose Polizei gestärkt und in die Lage versetzt werden, zu ermitteln, Verantwortliche zu verhaften und sie zu verfolgen. „Die Sicherheit der Afghanen muss zum Maßstab für den Erfolg der internationalen Gemeinschaft werden,“ sagt Coursen-Neff, Senior-Researcher der Abteilung für Kinderrechte von Human Rights Watch. „Der Zugang zu Bildung ist ein wichtiges Kriterium. Wenn es zu gefährlich ist, Kinder in die Schule zu schicken, reichen die Sicherheitsvorkehrungen nicht aus und es gibt keine wirkliche Entwicklung.“

Ausgewählte Augenzeugenberichte aus “Lessons in Terror”:

“In den ersten drei Jahren waren hier jede Menge Schülerinnen – alle wollten ihre Töchter zur Schule schicken. Zum Beispiel im Bezirk Argandob, ein konservatives Gebiet, waren die Mädchen und die Lehrerinnen dazu bereit. Aber als zwei, drei Schulen abgebrannt wurden, wollte niemand mehr die Mädchen zur Schule schicken.“
Frauenbeauftragte des Provinzrates von Kandahar, 11. Dezember 2005.

“Die Taliban gingen in jede Klasse, zogen ihre langen Messer … sperrten die Kinder in zwei Räume, wo sie zuerst brutal mit Stöcken geschlagen wurden und dann gefragt wurden: “Wirst du jetzt noch zur Schule gehen? Die Lehrer sagten, dass sie aus der Schule geholt wurden. Die Taliban fragten jeden einzeln: ‚Warum arbeitest du für Bush und Karzai?’ Sie sagten, „Wir unterrichten unsere Kinder mit Büchern – wir wissen nichts von Bush oder Karzai, wir bilden lediglich unsere Kinder aus. Anschließend wurden sie grausam geschlagen und konnten gehen.’
Der für Bildung zuständige Beamte des Bezirks Maruf, Provinz Kandahar, beschreibt, wie die Taliban seine Schule im Juni 2004 stillgelegt hatten. Er sprach mit Human Rights Watch am 9. Dezember 2005. Alle Schulen des Bezirkes wurden geschlossen.

“Ich sah diese beiden Männer … Einer davon schoss ein volles Magazin in die Brust von Laghmani … Ich hatte Angst um mein Leben und habe mich in einer Ecke versteckt. Ich wusste nicht, wer das Opfer war. Als die Mörder flohen, ging ich zum Tor und sah Laghmani tot liegen … Das war schrecklich … Wir hatten ‚Nachtbriefe’ erhalten, aber niemand dachte, dass die tatsächlich einen Lehrer umbringen würden!“
Der Augenzeuge sprach mit Human Rights Watch am 21. Dezember 2005 und beschreibt wie zwei Männer auf einem Motorrad einen Lehrer am Tor der Schule erschossen, an der er unterrichtet hatte, in der Ortschaft Zarghon, Bezirk Nad Ali, Provinz Helmand.

“Ich war Erster Klassenlehrer in der Grundschule für Mädchen (der Name ist Human Rights Watch bekannt) … Letzten November (2004) ging ich mit einigen Mädchen zur Schule und entlang unseres Weges fand ich einen Brief … Es war eine klare gegen mich und alle Schülerinnen der Schule gerichtete Drohung. Es stand (auf Paschtu) geschrieben: ‚An alle Schülerinnen und Lehrer, die die Mädchen hier unterrichten! Wir warnen euch, weiterhin zur Schule zu gehen, denn sie ist ein Zentrum der Amerikaner. Wer in diese Schule geht, wird in die Luft fliegen. Um diesen Tod zu verhindern, warnen wir euch vor dem Besuch der Schule.“
“Als ich den Brief gelesen hatte, entschied ich mit meiner Familie, nicht mehr zur Schule zu gehen, weil jene, die uns gewarnt hatten, sehr stark und mächtig sind. Wir sind einfache Leute, und wir können sie nicht herausfordern. Ich bat die Mädchen meines Ortes ebenfalls, nicht mehr zur Schule zu gehen … alle Mädchen meines Dorfes würden wirklich gern die Schule besuchen … Aber das Problem ist die Sicherheit – was wird geschehen, wenn sie tatsächlich Bomben auf unseren Weg legen? Das ist die Frage.
Ehemaliger Lehrer, Provinz Laghman, 7. Juni 2005

„Ich sagte ‚Bitte, nehmt nicht die Provinz Helmand als Einsatzgebiet, weil wir dann zwei Mal Leute anstellen müssen: Wir werden Leute schicken und sie werden getötet werden.’ Das ist kein Spiel, wir können die Herausforderung nicht annehmen, hier zu arbeiten. Das ist das Hauptgebiet der Taliban Operationen.
Mitarbeiter einer afghanischen NRO, der ernsthafte Sicherheitsprobleme befürchtete und dem Koordinator einer kooperierenden NRO vorschlug, das Programm nicht auf Helmand auszuweiten. Das Gespräch mit Human Rights Watch fand am 15. Dezember 2005 statt.

“Kultur ist ein Ziel. Sicherheit ist jedoch noch viel wichtiger, weil sogar jene Menschen, die die Traditionen brechen möchten, nicht dazu imstande sind.”
Mitglied einer Frauengruppe in Kandahar City, am 8. Dezember, 2005.

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