Für viele Freunde der Menschenrechte in Europa war der Arabische Frühling das bewegendste Ereignis seit dem Fall der Berliner Mauer. Ihren leidenschaftlichen Worten über den Freiheitswillen der arabischen Völker nach zu urteilen, teilen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union diese Begeisterung. Es bestehe nun die Chance, so die Optimisten, dass nahezu über den gesamten Mittelmeerraum ein Bogen von Staaten entsteht, in denen die Menschenrechte respektiert werden.
In Wirklichkeit ist die Menschenrechtspolitik in Europa selbst und gegenüber den Anrainerstaaten des Mittelmeers jedoch weit weniger erbaulich gewesen. Dokumente, die von Human Rights Watch im September 2011 in Libyen entdeckt worden waren, belegten die Beteiligung Großbritanniens an illegalen Auslieferungen nach Libyen unter Muammar al-Gaddafi. Italien, das während der Gaddafi-Ära afrikanische Migranten und Asylsuchende ohne zu zögern nach Libyen zurückgeschickt hatte, obwohl ihnen dort Misshandlung und Schlimmeres drohten, unterzeichnete sogleich ein Kooperationsabkommen zu Migration mit dem libyschen Übergangsrat (auch wenn bis zum Redaktionsschlussnoch keine neuen Abschiebungen durchgeführt wurden). Die EU-Regierungen sträubten sich, Migranten und andere Menschen, die aus dem kriegsgerüttelten Libyen flohen, zu Hilfe zu kommen. Und die Ankunft Tausender tunesischer Migranten in Italien Anfang Januar führte dazu, dass die Regierungen der wichtigsten EU-Länder einen ihrer Grundpfeiler, die Freizügigkeit innerhalb der EU, infrage stellten.
Die schönen Worte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Menschenrechtsschutz in Europa vor großen Herausforderungen steht. Eine neue (oder vielmehr wieder aufkeimende alte) Idee ist auf dem Vormarsch: dass nämlich die Rechte „problematischer“ Minderheiten dem Allgemeinwohl untergeordnet werden müssen, und gewählte Politiker, die eine solche Politik verfolgen, auf Basis demokratischer Legitimation handeln.
Auf den ersten Blick mag der Gedanke einer Menschenrechtskrise in Europa abwegig erscheinen. Sieht man jedoch genauer hin, geben die sich abzeichnenden Entwicklungen Anlass zu ernsthafter Sorge. Vier Tendenzen sind besonders bedenklich: die Einschränkung der Freiheitsrechte als staatliche Reaktion auf terroristische Angriffe; die Debatte darum, welchen Platz Minderheiten und Migranten in Europa einnehmen, die all zu oft fremdenfeindlich aufgeladen ist; das Erstarken populistischer und extremistischer Parteien und ihr folgenschwerer Einfluss auf die Politik; sowie die abnehmende Durchsetzungskraft etablierter Menschenrechtsinstitutionen und ihrer Instrumente. Wenn die Regierungen die Tragweite dieser Situation nicht bald erkennen, wird möglicherweise schon die nächste Generation von Europäern die Menschenrechte nur noch als eine fakultative Größe und nicht mehr als Grundwerte betrachten.
Terrorismusbekämpfung und der Angriff auf die Menschenrechte
Terroristische Gewaltakte in Europa sind nichts Neues. Genauso wenig neu sind Verstöße gegen die Menschenrechte im Rahmen der Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus. Doch der 11.September und die nachfolgenden Anschläge in Madrid und London waren Auslöser für eine Politik, die den Menschenrechten nachhaltig geschadet hat.
Europäische Regierungen haben in den vergangenen zehn Jahren nicht selten ihre Bereitschaft demonstriert, das uneingeschränkte Verbot der Folter auszuhöhlen, indem sie Terrorismusverdächtige in Länder abschoben, wo ihnen Gewalt, Misshandlung und unrechtmäßige Inhaftierung drohten. Die unter Folter abgelegten Geständnissewurden genutzt und mutmaßlichen Terroristen Rechte aberkannten, die anderen mutmaßlichen Straftätern zugestanden werden. Die Mitverantwortung europäischer Regierungen an Menschenrechtsverletzungen durch die USA unter der Regierung Bush (illegale Überstellungen, sogenannte black sites oder geheime Gefängnisse und Folter) ist bis heute nicht in ihrem ganzen Ausmaß bekannt (einige Regierungen wie die von Norwegen haben der Versuchung widerstanden und mit rechtsstaatlichen Mitteln auf terroristische Gewalt reagiert).
Viele Gesetze und politische Maßnahmen waren äußerst bedenklich und sind zum Teil noch nicht wieder geändert worden (insbesondere dort, wo Gerichte oder nationale Parlamente nicht willens oder in der Lage waren, diese rückgängig zu machen). Eine wohl noch größere Erblast stellt allerdings die damit verbundene Rhetorik dar.
Viele Regierungen in der EU waren um einen Paradigmenwechsel bemüht, bei dem die Menschenrechte den Sicherheitsinteressen untergeordnet oder gänzlich außer Acht gelassen wurden . Der ehemalige britische Premierminister Tony Blair etwa sagte nach den Selbstmordanschlägen vom Juli 2005 in London: „Die Spielregeln haben sich geändert.“ Die Angst vor Terrorismus in der Bevölkerung wurde zwar größtenteils durch die Sorge um Arbeitsplätze und Sozialleistungen verdrängt (auch wenn die Bedrohung weiter existiert), die zersetzenden Ideen haben sich allerdings etabliert.
Vor dem Hintergrund der Terrorismusbekämpfung bliesen Europas Politiker zum Angriff auf die universellen Menschenrechte in drei Stufen: Die erste bestand darin, Terrorismusverdächtigen weniger Rechte zuzugestehen als anderen mutmaßlichen Straftätern. Dann hieß es, in Europa könne es entweder Sicherheit oder Menschenrechte geben, beides zusammen sei nicht möglich. Und schließlich erklärte man die Menschenrechte zu einem Nullsummenspiel, die Rechte der Mehrheit könnten also nur auf Kosten der Rechte der – des Terrorismus verdächtigten – Minderheit gewährleistet werden.
Von der eigenen Angst getrieben, akzeptierten viele Menschen in Europa diese Argumente. Und waren, um ihre Angst zu lindern, bereit, auf diese Rechte zu verzichten, zumal es auch nicht ihre Rechte waren oder zu sein schienen, die auf dem Spiel standen.
Welchen Platz haben Migranten und Minderheiten in Europa?
Intoleranz gegenüber Migranten und Minderheiten ist in Europa weitverbreitet. Einer Umfrage aus dem Jahr 2010 zufolge teilt ein Großteil der Bevölkerung in acht EU-Staaten die Ansicht, es gebe zu viele Immigranten, die Hälfte der Befragten stimmte dieser Meinung in Bezug auf Muslime zu.
Die wachsende Intoleranz in Europa lässt sich durch die Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur, die Angst vor Terrorismus und Verbrechen sowie den Wettbewerb um wirtschaftliche Ressourcen erklären. Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa und die daraus resultierenden Sparmaßnahmen werden diese Situation vermutlich noch verschärfen.
Wie eine Erhebung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte aus dem Jahr 2009 zeigt, sind europäische Muslime und Roma ständigen Anfeindungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Auch illegale afrikanische Migranten haben mit erheblichen Problemen zu kämpfen, einschließlich Diskriminierung und Gewalt. Einzelne Übergriffe sind in Europa an der Tagesordnung, zum Teil kam es aber auch zu Übergriffen durch gewaltbereite Gruppen, unter anderem in Italien (gegen Migranten aus Afrika und gegen Roma), in Griechenland (gegen Migranten) und in Osteuropa (gegen Roma).
Die Reaktionen der europäischen Regierungen haben sich äußerst negativ auf die Achtung der Menschenrechte ausgewirkt. Anstatt mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass die Geschichte Europas von Migration geprägt ist, anstatt die zahlreichen, von Migranten und Minderheiten geleisteten Beiträge hervorzuheben und Intoleranz entschieden zu verurteilen, haben die Politiker diese Ängste ausgenutzt.
Gewiss können kulturelle und religiöse Praktiken einen Verstoß gegen die Menschenrechte darstellen und diejenigen, die sich diskriminierend oder missbräuchlich verhalten, müssen dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Was in Europa passiert, ist jedoch weit besorgniserregender als das Verhalten einzelner Personen.
So wurden beispielsweise marginalisierte Gruppen für das Verhalten einer Handvoll Personen verantwortlich gemacht (wie die Roma in Italien); sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene gab es Bestrebungen, die EU-Außengrenzen zu schließen; Migranten waren mit restriktiven und menschenunwürdigen Asylverfahren und ebensolchen Haftbedingungen konfrontiert (insbesondere in Griechenland), wobei unbegleitete Kinder besonders gefährdet waren; und schließlich sollten sich Migranten (selbst der zweiten und dritten Generation) im Namen der Integration die Mehrheitskultur zu eigen machen und mussten, falls sie dies nicht taten, mit Sanktionen rechnen oder das Land verlassen (wie in Deutschland, den Niederlanden, Dänemark und anderen Ländern).
Am stärksten betroffen waren die Muslime in Europa. Die Angst vor einem sogenannten hausgemachten Terrorismus nach den Anschlägen in Madrid und London, mehrere angebliche Terrorzellen und die Sorge um den Verlust der eigenen Kultur aufgrund der stärkeren Präsenz von praktizierenden Muslimen hatten zur Folge, dass die verschiedenen muslimischen Gemeinschaften in Europa unter Druck gerieten und ihre Loyalität indirekt in Zweifel gezogen wurde. Die Angst vor Muslimen prägte die politischen Debatten um die „Integration“, einem Schlagwort für eine ganze Fülle von Ängsten und Sorgen darüber, welchen Platz Migranten und insbesondere muslimische Einwanderer in der Gesellschaft einnehmen, und ließ schließlich Forderungen nach entsprechenden Maßnahmen laut werden.
Im Grunde ist die Sorge darum, welchen Platz muslimische Migranten in Europa einnehmen, kulturell bedingt, wie ein aktueller Bericht des Forschungsinstituts Chatham House zeigt. Das Kopftuch und der Gesichtsschleier und zu einem gewissen Grad auch Minarette und Moscheen haben auch deshalb eine so große Rolle in diesen Debatten gespielt, weil sie sichtbare Zeichen dafür sind, dass Muslime in Europa leben und auch weiter hier leben wollen.
Die Sorge darüber, welchen Platz Muslime in Europa einnehmen, existiert aber nicht erst seit den Anschlägen vom 11.September 2001. Was sich seitdem allerdings verändert hat, ist der Umgang mit Migranten aus Bangladesch, Pakistan, Marokko und der Türkei in Europa. Viele europäische Politiker waren zwar bemüht, klar zwischen den Gewaltakten einer kleinen Gruppe und den muslimischen Gemeinschaften an sich zu unterscheiden, doch die politischen Maßnahmen und Debatten darüber, wie man dieser „hausgemachten“ Bedrohung entgegenwirken könne, erweckten häufig den Eindruck eines Pauschalverdachts gegen die muslimischen Gemeinschaften.
Die Auswirkungen auf die Menschenrechte in Europa sind real. In der Praxis sind staatlich erzwungene Integration und ein Integrationskonzept, das der Gesellschaft keine Zugeständnisse abverlangt, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wenn Politiker sich die Ängste der Öffentlichkeit vor dem Verlust der eigenen Kultur zunutze machen und eine Politik betreiben, die Fremdenfeindlichkeit schürt, anstatt sie zu mindern, setzen sie die Rechte von Minderheiten in Europa aufs Spiel. Und sie bestätigen damit, was vielleicht sogar noch schlimmer ist: die gefährliche Vorstellung von Menschenrechten als Nullsummenspiel, wonach Minderheiten die Mehrheitskultur (oder die „christlichen Werte“, wie die deutsche Kanzlerin 2010 vorschlug) gefälligst zu akzeptieren haben oder aber ihre Rechte, wenn sie dies ablehnen sollten, dem Allgemeinwohl untergeordnet werden.
Düster sieht die Menschenrechtslage der Roma, der größten Minderheit in Europa, aus. Auf europäischer Ebene wurde zwar bereits anerkannt, dass die anhaltende Diskriminierung und Ausgrenzung von Roma entschiedenes Handeln und Unterstützung erfordern, und eine entsprechende Strategie erarbeitet. Doch auf nationaler Ebene werden Roma in der gesamten EU noch immer stigmatisiert und dürften, wie andere Migranten auch, von den aktuellen Sparmaßnahmen besonders stark betroffen sein.
Die Erfahrungen romastämmiger Migranten in Ost- und Westeuropa und die fragwürdigen politischen Maßnahmen gegenüber dieser Minderheit weisen gewisse Parallelen auf zu den Erfahrungen, die Muslime machen mussten. Nur dass an die Stelle der Angst vor Terrorismus die Angst vor einer vermeintlichen Ausbreitung von Verbrechen tritt, und die Bedenken eher ökonomischen denn kulturellen Ursprungs sind. Zwangsräumungen und die Ausweisung von osteuropäischen Roma, die selbst EU-Bürger sind, aus Frankreich und Italien machen die Auswirkungen dieser Ängste sichtbar. Zwangsräumungen von Roma sind in der gesamten EU immer noch üblich.
Weiter östlich, in Ungarn, Rumänien, Bulgarien, der Tschechischen Republik und der Slowakei, ist die Lage sogar noch besorgniserregender. Trotz Hunderter Millionen Euro an EU-Fördermitteln und Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die für die EU-Mitgliedstaaten bindend sind, kommt es zu gewalttätigen Übergriffen und feindseligen Äußerungen gegenüber Roma, und die Fortschritte im Hinblick auf ein Ende der Wohnsegregation und der Ausgrenzung von Roma an Schulen sind geringfügig.
Das sind schlechte Nachrichten für die Roma, aber auch für die Menschenrechte im Allgemeinen. Und trotzdem geben Politiker in Europa lieber den Ängsten der Bevölkerung nach und schüren diese auf Kosten einer unpopulären Minderheit zum Teil sogar noch, anstatt laut und deutlich die europäischen Grundwerte zu verteidigen und Rechte für alle Menschen zu fordern.
Populistischer Extremismus
Mit der mangelnden Führungsstärke und der negativen Rhetorik europäischer Regierungen hängt noch eine dritte beunruhigende Entwicklung zusammen: das Erstarken von populistischen und extremistischen Parteien.
Der terroristische Akt von Anders Breivik im Juli2011, bei dem 77Norweger ums Leben kamen, war eine ernst zu nehmende Erinnerung daran, dass sich extremistische und politische Gewalt nicht auf jene beschränkt, die im Namen des Islam handeln. In seinem wirren Manifest zitierte Breivik zustimmend populistische und extremistische Parteien in ganz Europa, auch wenn er die Entscheidung für einen solchen Terrorakt ganz allein getroffen hat.
Der wachsende Erfolg dieser Parteien bei den Wahlen in ganz Europa wirkte sich maßgeblich auf die etablierte Politik aus. Dort, wo populistische und extremistische Parteien Teil der Regierungskoalition sind (wie in Italien und in der Schweiz) oder Minderheitsregierungen formal unterstützen (wie in den Niederlanden), macht sich der Einfluss auf die Mainstream-Politik sofort bemerkbar. Insgesamt haben die etablierten Parteien auf den wachsenden Stimmenanteil von populistisch-extremistischen Parteien in einer Weise reagiert, die von einer Politik, die die Menschenrechte respektiert, weit entfernt ist.
In Westeuropa haben extremistische Parteien die Frage nach dem Platz von Muslimen und die für die europäische Kultur vermeintlich von ihnen ausgehende Gefahr in den Vordergrund gerückt. Einige von ihnen, wie etwa die Lega Nord in Italien, richten ihr Augenmerk auf Migranten im Allgemeinen.
Durch die Fokussierung auf Muslime und die Angst vor terroristischen Anschlägen können diese Parteien Vorwürfe, sie seien rassistisch oder fremdenfeindlich (einige unterscheiden sogar zwischen „guten“ Minderheiten und muslimischen Minderheiten), leichter von sich weisen und führen die drohende Gefahr durch konservative Muslime in Bezug auf die Rechte von Frauen und auf Homosexualität an, um dies zu verdeutlichen. Konservative Christen, die ähnliche Ansichten vertreten, waren derartigen Anfeindungen hingegen nicht ausgesetzt.
Populistische und extremistische Parteien im Osten der EU stellen eher die Roma als die Muslime in den Mittelpunkt. So zum Beispiel Jobbik, die drittstärkste Partei im ungarischen Parlament, die Verbindungen zu einer paramilitärischen Gruppe hat, welche an Übergriffen auf Roma beteiligt war, oder auch die Slowakische Nationalpartei, die Teil der Regierungskoalition ist und deren Vorsitzender erst jüngst die Schaffung eines eigenen Roma-Staats forderte.
In Zeiten zunehmender Wut angesichts von Sparmaßnahmen und Massenarbeitslosigkeit besteht die Gefahr, dass solche Aussagen bei den Wählern vermehrt Zuspruch finden.
Viele Menschen in Europa treten weiterhin für die Rechte von Migranten und Minderheiten sowie für den Schutz der Menschenrechte ein. Doch die etablierten Parteien haben, anstatt Widerstand gegen Populismus und Extremismus zu leisten, politische Koalitionen für ihre eigenen Ziele genutzt und sich abgeschwächte Versionen derselben Politik oder Rhetorik zu eigen gemacht. Oder aber sie reagierten mit Untätigkeit und Schweigen wie im Fall einiger Mitte-Links-Parteien.
Zum Teil wird das Argument vorgebracht, dass es aufgrund ihrer Wahlerfolge undemokratisch wäre, die Ansichten dieser Parteien unberücksichtigt zu lassen.
Eine solche Vorgehensweise ist jedoch weit davon entfernt, die politische Herausforderung durch populistische und extremistische Parteien zu neutralisieren. Vielmehr hat sie dazu beigetragen, diese Parteien zu legitimieren und salonfähig zu machen und den Wählern zu verstehen zu geben, dass man sich fremdenfeindlicher, antimuslimischer oder romafeindlicher Ansichten nicht zu schämen braucht, sondern dass diese durchaus vertretbar sind.
Für die Menschenrechte in Europa stellt das Erstarken populistischer und extremistischer Parteien eine echte Herausforderung dar. Es führt zu Polarisierung in der Politik und bekräftigt die Vorstellung, die Rechte der Mehrheit könnten nur aufrecht erhalten und respektiert werden, wenn die Rechte der Minderheit untergeordnet werden, wodurch wir uns immer weiter von ihrer Allgemeingültigkeit entfernen. Nicht zuletzt wird eine die Menschenrechte verletzende Politik auf demokratischen Grundsätzen legitimiert.
Die Menschenrechte verlieren an Bedeutung
In einer Demokratie besteht immer die Gefahr, dass ohne eine gute Regierungsführung die Mehrheit Maßnahmen unterstützt, die den Interessen der Minderheit schaden. Dieses Dilemma ist auch einer der Gründe dafür, dass die Achtung der Menschenrechte, die unter anderem auch gegen die „Tyrannei der Mehrheit“ schützen sollen, wichtiger ist denn je. Besonders alarmierend ist in diesem Zusammenhang, dass sich Europas Menschenrechtsinstitutionen und ihre Instrumente bei der Bewältigung dieser negativen Entwicklungen als wirkungslos erweisen.
Ein oftmals nützliches Instrument – das öffentliche Anprangern – kann nur dann funktionieren, wenn sich die betreffende Regierung bloßgestellt fühlt, sobald Verstößen gegen die Spielregeln aufgedeckt werden. Die aktuelle politische Lage in vielen europäischen Staaten sieht im Moment jedoch so aus, dass sich Regierungen nicht mehr genieren, eine Politik zu verfolgen, die gegen die Menschenrechte verstößt. Sie rechtfertigen dies damit, dass andernfalls die Gefahr bestünde, gegenüber populistischen und extremistischen Parteien an Boden zu verlieren.
Wenn Menschenrechtsorganisationen, der Europarat, die Vereinten Nationen, Kirchenvertreter und zum Teil auch EU-Institutionen an menschenrechtsverletzender Rhetorik und Politik Kritik üben, so wird diese einfach ignoriert. Als Beispiele dafür können die Zwangsräumung und Ausweisung von Roma in Frankreich, die Isolationshaft von Terrorverdächtigen in Spanien, das Zurückdrängen von Migranten nach Libyen unter Gaddafi durch die italienische Regierung und die menschenunwürdige Inhaftierung von Migranten in Griechenland genannt werden. Die politischen Vorteile im eigenen Land, die aus einer solchen Politik resultieren, haben oftmals mehr Gewicht als die durch eine Verurteilung durch internationale oder regionale Akteure verursachten Unannehmlichkeiten.
Zwei Institutionen sind dennoch schwer zu ignorieren: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Europäische Kommission.
Der EGMR besitzt nach wie vor Autorität, auch wenn es Regierungen in der EU gibt, die bereits die ein oder andere einstweilige Verfügung ignoriert haben (vor allem Italien in Zusammenhang mit der Ausweisung von Terrorverdächtigen), und auch wenn sich der Gerichtshof eher allgemeineren politischen Angriffen ausgesetzt sieht (insbesondere durch Großbritannien), weil er sich in nationale Angelegenheiten einmischt.
Die Europäische Kommission ist seit langem befugt, die Mitgliedstaaten der EU für Verstöße gegen geltendes EU-Recht zur Rechenschaft zu ziehen, und verfügt seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags, der die Wahrung der Menschenrechte beinhaltet, über einen Kommissar für Grundrechte.
Deutlich wurde die Stärke der EU-Kommission, als Frankreich im Sommer 2010 Roma des Landes verwies. Die französische Regierung, die zuvor Kritik seitens der UN, des Europarats und des Europäischen Parlaments ignoriert hatte, tobte vor Wut, als die Kommission sie aufgrund ihres Vorgehens zurechtwies.
Leider machte die Kommission am Ende einen Rückzieher und akzeptierte im August 2011 eine Anpassung der französischen Gesetzgebung; die den Ausweisungen zugrunde liegende Diskriminierung wurde jedoch nicht geklärt. In ihrem Vorgehen gegen Ungarns Medienrecht und Griechenlands nichtfunktionierendes Asylsystem zeigte sich die Kommission ähnlich halbherzig. In beiden Fällen drohte sie zwar zunächst mit Strafverfahren, verfolgte diese aber nicht weiter oder verschob sie auf unbestimmte Zeit, ohne die Ursachen ausreichend geklärt zu haben.
Eigentlich sind die Menschenrechte ein fester Bestandteil des Projekts Europa. Wenn die EU-Kommission jedoch nicht den Mut findet, Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Regelwerk zur Rechenschaft zu ziehen, werden die Menschenrechte in Europa wohl weiter an Bedeutung verlieren.
Fazit
Dass die Menschenrechte in Europa immer weniger geachtet werden, wird aufmerksam beobachtet. Weltweit haben Regierungen beim Kampf gegen den Terrorismus die Menschenrechte verletzt, sie haben Migranten, Roma und andere Minderheiten angegriffen und Feindseligkeiten gegenüber Muslimen geschürt, um ihre eigene menschenrechtsverletzende Politik zu rechtfertigen und um Kritik der EU zu untergraben. Das Europäische Parlament kam 2009 zu dem Schluss, dass die Glaubwürdigkeit der EU-Menschenrechtspolitik außerhalb Europas dadurch schweren Schaden genommen hat.
Die Menschenrechtskrise in Europa ist vor allem um ihrer selbst willen von Bedeutung. Wenn diesen gefährlichen Ideen, wonach den einen weniger Rechte zukommen als anderen und wonach der demokratische Wille der Mehrheit sich gegen Minderheiten durchsetzen kann, nicht Einhalt geboten wird, so wird dies dazu führen, dass die Ideale all jener, die die Berliner Mauer zu Fall gebracht haben, verraten werden. Der Schaden wird unermesslich sein.