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(London, 12. Januar 2023) – Das Jahr 2022 war geprägt von einer Reihe menschenrechtlicher Krisen, etwa in der Ukraine, in China oder Afghanistan, unter denen unzählige Menschen zu leiden hatten. Doch hat diese Situation Ländern in aller Welt gleichzeitig neue Wege eröffnet, im Bereich der Menschenrechte voranzuschreiten, erklärt Tirana Hassan, Interim-Exekutivdirektorin von Human Rights Watch, heute bei der Veröffentlichung des World Report 2023. Der Bericht beschreibt die Lage der Menschenrechte in fast 100 Ländern, in denen Human Rights Watch tätig ist. 
 
Das globale Machtgefüge ist in Bewegung und autokratische Regime sehen ihre Chance, das internationale Menschenrechtssystem zu zerrütten. Daher gilt es die Menschenrechte auf der ganzen Welt zu schützen und zu stärken und das Engagement sämtlicher Regierungen über die aktuellen politischen Allianzen hinaus auszuweiten. 
 
„Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass alle Regierungen Verantwortung für den globalen Schutz der Menschenrechte tragen“, so Hassan. „Angesichts eines verschobenen Machtgefüges und neu entstehender Koalitionen und Führungsrollen haben Staaten jetzt mehr Möglichkeiten, und nicht etwa weniger, für die Menschenrechte einzutreten.“ 

In dem 712-seitigen World Report 2023, der 33. Ausgabe, beschreibt Human Rights Watch die Lage der Menschenrechte in fast 100 Ländern. In ihrem einleitenden Essay erklärt Interim-Exekutivdirektorin Tirana Hassan, dass es in einer Welt, in der sich die Machtverhältnisse verschoben haben, nicht mehr möglich ist, sich bei der Verteidigung der Menschenrechte auf eine kleine Gruppe von Regierungen größtenteils aus dem Globalen Norden zu verlassen. Die weltweiten Aktionen rund um die Ukraine erinnern uns an das außerordentliche Potenzial, das entsteht, wenn Regierungen ihre Menschenrechtsverpflichtungen auf globaler Ebene wahrnehmen. Es liegt in der Verantwortung der einzelnen Länder, ob groß oder klein, ihre Politik an den Menschenrechten auszurichten und sich gemeinsam für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte einzusetzen. 
 
Die groß angelegte Invasion der Ukraine durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin, mit Angriffen auf die zivile Infrastruktur und Tausenden von zivilen Opfern, stand weltweit im Fokus und hat dazu geführt, dass alle Hebel des Menschenrechtssystems in Bewegung gesetzt wurden. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen leitete eine Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen ein und richtete den Posten eines Sonderberichterstatters zur Beobachtung der Menschenrechtslage in Russland ein. Auch der internationale Strafgerichtshof leitete auf Antrag einer rekordverdächtigen Zahl an Mitgliedsländern eine Untersuchung ein. Die Europäische Union, die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Kanada und andere Regierungen verhängten außerdem beispiellose internationale Sanktionen gegen russische Einzelpersonen, Unternehmen und andere Einrichtungen, die mit der russischen Regierung in Verbindung stehen. 
 
Die Regierungen, die die Ukraine jetzt mit koordiniertem Handeln im Rahmen von zahlreichen Hilfspaketen unterstützen, sollten sich fragen, wie die Situation jetzt aussehen würde, wenn sie Putin schon zu Beginn des Krieges in der Ostukraine im Jahr 2014 zur Rechenschaft gezogen hätten. Oder für die Übergriffe in Syrien im Jahr 2015 oder sogar noch früher für die immer schwerwiegenderen Menschenrechtsverletzungen in Russland selbst im vergangenen Jahrzehnt. 
 
Diese Art von globalem Handeln wäre auch in Äthiopien erforderlich, wo seit zwei Jahren ein Bürgerkrieg tobt. Die dort von allen Konfliktparteien begangenen Gräueltaten haben nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit erfahren, die der Ukraine zuteilwurde, was zu einer der verheerendsten humanitären Krisen der Welt beigetragen hat, sagte Hassan.  

Der UN-Sicherheitsrat, der für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zuständig ist, war bisher nicht bereit, Äthiopien auf seine offizielle Tagesordnung zu setzen, da die afrikanischen Mitglieder des Rates sowie Russland und China eine entsprechende Erklärung blockierten. Der kürzlich abgeschlossene Friedensprozess unter Führung der Afrikanischen Union hat zu einem fragilen Waffenstillstand geführt. Damit dieser jedoch Bestand hat, sollten die Unterstützer des Abkommens, darunter die Afrikanische Union, die Vereinten Nationen und die USA, Druck ausüben und aufrechterhalten, um sicherzustellen, dass diejenigen, die während des Krieges schwere Verbrechen begangen haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Nur so kann der tödliche Kreislauf von Gewalt und Straflosigkeit durchbrochen werden. Die Rechenschaftspflicht ist für die Opfer von entscheidender Bedeutung, um zumindest bis zu einem gewissen Grad Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu erlangen, was bisher nicht möglich war. 

Die chinesische Regierung ist nach wie vor nicht für die Masseninhaftierung, Folter und Zwangsarbeit von bis zu einer Million Uigur*innen und anderen turksprachigen Muslim*innen in der Region Xinjiang zur Rechenschaft gezogen worden. Im UN-Menschenrechtsrat fehlten gerade mal zwei Stimmen, um eine Debatte über den vom UN-Hochkommissar für Menschenrechte vorgelegten Bericht auf die Tagesordnung zu setzen, der zu dem Schluss kommt, dass die Misshandlungen in Xinjiang Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen könnten.  

Das knappe Abstimmungsergebnis zeigt, dass die Zahl jener Regierungen wächst, die bereit sind, die chinesische Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, und es unterstreicht das Potenzial für überregionale Bündnisse und neue Koalitionen, die der von Peking angestrebten Straffreiheit einen Riegel vorschieben könnten. 

Länder wie Australien, Japan, Kanada, Großbritannien, die EU und die USA stellen ihre bisherigen Beziehungen zu China auf den Prüfstand und sind bestrebt, die Handels- und Sicherheitsvereinbarungen mit Indien zu erweitern. Allerdings geht auch die rechtskonservative hindu-nationalistische Partei Bharatiya Janata von Premierminister Narendra Modi nach Chinas Vorbild repressiv gegen die eigene Bevölkerung vor. Eine Vertiefung der Beziehungen zu Indien darf jedoch nicht ohne gleichzeitigen Druck auf die Modi-Regierung erfolgen, die Rechte seiner Bürger*innen zu respektieren. Andernfalls würde ein wertvolles Druckmittel verschenkt, die zunehmend gefährdeten bürgerlichen Rechte in Indien zu schützen. 
 
„Autokraten begründen ihre Politik mit der Illusion, dass sich Stabilität nur mit Gewalt erreichen lässt. Immer wieder zeigen jedoch mutige Demonstranten auf der ganzen Welt, dass Repression keine Abkürzung zu stabilen Verhältnissen darstellt“, so Hassan. „Die Proteste in Städten in ganz China gegen die strengen Null-Covid-Maßnahmen der chinesischen Regierung zeigen, dass der Wunsch der Menschen nach [der Achtung von] Menschenrechten trotz Pekings Bemühungen, sie zu unterdrücken, nicht ausgelöscht werden kann.“ 
 
Regierungen, denen der Schutz der Menschenrechte wichtig ist, haben sowohl die Möglichkeit als auch die Verantwortung, Protestbewegungen und zivilgesellschaftlichen Gruppen ihre Aufmerksamkeit zu schenken und sie moralisch zu unterstützen, die sich gegen Regierungen auflehnen, die die Menschenrechte missachten, etwa im Sudan und in Myanmar. Politische Entscheidungsträger*innen aus den USA, den Vereinten Nationen, der EU sowie regionale Partner, die mit der sudanesischen Militärführung verhandeln, sollten den Forderungen von Protest- und Opfergruppen nach Gerechtigkeit und einem Ende der Straffreiheit für die Verantwortlichen der Gräueltaten im Sudan Vorrang einräumen. Außerdem sollte der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) den Druck auf die Militärjunta in Myanmar verstärken, indem er sich internationalen Bemühungen anschließt, die Deviseneinnahmequellen des Militärs auszutrocknen. 
 
Die internationale Gemeinschaft sollte auch die existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel aus der Perspektive der Menschenrechte betrachten. Von Pakistan über Nigeria bis Australien ist jeder Winkel der Welt von nicht enden wollenden, von Menschen verursachten Überschwemmungen, Waldbränden und Dürren katastrophalen Ausmaßes bedroht. Diese Katastrophen zeigen auf, mit welchen Kosten die bisherige Untätigkeit einhergeht, für die auch noch größtenteils die Schwächsten aufkommen müssen. Regierungen auf der ganzen Welt sind rechtlich und moralisch verpflichtet, Industrien zu regulieren, deren Geschäftsmodelle nicht mit dem Schutz der Grundrechte vereinbar sind, etwa in den Bereichen fossile Brennstoffe und Abholzung. 
 
„Die Unterstützung von Gemeinden und Menschen, die sich an Ort und Stelle für den Schutz der Umwelt einsetzen, ist eine der wirksamsten Möglichkeiten, sich gegen umweltschädigende Aktivitäten von Unternehmen und Regierungen zu wehren und wichtige Ökosysteme zu schützen, die für die Bewältigung der Klimakrise notwendig sind“, sagte Hassan. „In Brasilien hat Präsident Luiz Inácio Lula da Silva versprochen, die Abholzung des Amazonasgebiets auf Null zu reduzieren und die Rechte indigener Völker zu verteidigen. Ob er seine Versprechen in Bezug auf Klima und Menschenrechte einhält, wird entscheidend für Brasilien und die Welt sein.“ 
 
Das Ausmaß, der Umfang und die Häufigkeit von Menschenrechtskrisen auf der ganzen Welt belegen die Dringlichkeit eines neuen rechtlichen Rahmens und eines neuen Handlungsmodells. Wenn wir die Menschenrechte in den Mittelpunkt der größten Herausforderungen und Bedrohungen unserer modernen Welt stellen, zeigen wir nicht nur die Ursachen der Krisen auf, sondern bieten auch einen Leitfaden, wie wir sie angehen können. Denn jede Regierung hat die Pflicht, die Menschenrechte zu schützen und für sie einzutreten. 
 
„Die weltweite Mobilisierung zum Schutz der Ukraine hat gezeigt, was möglich ist, wenn Regierungen zusammenarbeiten“, sagte Hassan. „Die Herausforderung für alle Regierungen besteht nun darin, mit dem gleichen Geist der Solidarität neue Wege zu beschreiten, um Menschenrechte auf der ganzen Welt erfolgreich zu schützen und zu fördern.“ 

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