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Syrien: Zeugen berichten von Zerstörung und Hinrichtungen in Idlib

Ein Jahr nach Beginn des Aufstands fordern die Angriffe des Regimes eine hohe Zahl an Todesopfern

(New York) – Zeugenberichte offenbaren das Ausmaß der Zerstörung und die große Anzahl an Todesopfern und verletzten Zivilisten nach der Bombardierung der syrischen Stadt Idlib, so Human Right Watch. Am Jahrestag des syrischen Aufstands appellierte Human Rights Watch an Russland und China, einem Beschluss des UN Sicherheitsrates zuzustimmen, der Syrien auffordert, die anhaltenden Angriffe auf Städte einzustellen. Zudem soll humanitären Hilfsorganisationen, Journalisten und Menschenrechtsbeobachtern Zugang gewährt werden.

Idlib ist die jüngste Hochburg der Rebellen, die von den syrischen Sicherheitskräften unter Beschuss genommen wurde, mit dem Ziel die bewaffnete Opposition niederzuschlagen. Syrische Aktivisten haben eine Liste mit 114 Zivilisten zusammengestellt, die seit den Angriffen auf die Stadt mit Beginn vom 10. März dieses Jahres getötet wurden. Fünf Zeugen, einschließlich drei ausländischer Korrespondenten, berichteten Human Rights Watch unabhängig voneinander, dass die syrische Regierung großkalibrige Maschinengewehre, Panzer und Minenwerfer nutzte, um wahllos auf Gebäude und Passanten zu schießen. Nachdem sie in Idlib eingetroffen waren, hätten die Regierungstruppen mehrere Menschen in Hausdurchsuchungen festgenommen, Gebäude geplündert und Häuser niedergebrannt, so die Zeugenaussagen.

„Stadt für Stadt, Dorf für Dorf verfolgen die syrischen Sicherheitskräfte ihre Taktik der ‘verbrannten Erde’, während die Hände des Sicherheitsrates weiterhin durch Russland und China gebunden sind“, so Sarah Leah Whitson, Nahost-Direktorin bei Human Rights Watch. „Ein Jahr nach Beginn der Kämpfe soll der Sicherheitsrat endlich einen gemeinsamen Standpunkt finden und eine klare Botschaft an Assad schicken, dass diese Angriffe aufhören müssen.“

Die Angriffe auf Idlib folgen nach Monaten voller Gräueltaten, die sowohl die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen als auch der UN Hochkommissar für Menschenrechte als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet haben.

Die groß angelegte Militäraraktion in Idlib begann am 10. März gegen 5 Uhr morgens. „Michael“, ein internationaler Journalist, der sich in der Stadt befand, berichtete Human Rights Watch:

„Die Armee begann am Morgen, die Stadt mit Panzern zu beschießen, und setzte dies bis zum Abend fort. Sie schossen überall. Am Morgen konnten wir die Schüsse alle zwei Minuten hören. Mittags gab es seine kurze Pause, bevor sie wieder anfingen zu schießen. Sie hatten kein bestimmtes Ziel, sondern versuchten lediglich, die Bevölkerung zu verängstigen. Die Rebellen versuchten Widerstand zu leisten, aber es war unmöglich. Nach dem Beschuss begann die Armee, die Stadt zu verlassen.“

„Maria“, eine andere internationale Journalistin, die an jenem Tag in der Stadt war, berichtete, dass sie losrann, um Verletzten zu helfen, als die Armee das Feuer von einem gepanzerten Truppentransporter aus eröffnete.

„[Nachdem ich von dem Angriff erfuhr], rannte ich mit einer Gruppe von Syrern zu dem Gebäude, um den Menschen dort zu helfen. Einige der Syrer, die mit mir liefen, hatten Waffen und Mobiltelefone, aber sie nahmen nicht aktiv am Gefecht teil. Wir sahen einen Hubschrauber über uns fliegen, und es hatte den Anschein, dass der Angriff gut koordiniert war. Kurz bevor ich das Gebäude erreichte - ich war ungefähr zehn Meter entfernt – griffen die Regierungstruppen wieder an. Es schien, dass sie von einem Gewehr oder einem gepanzerten Truppenwagen schossen. Wenn sie mit irgendetwas Größerem geschossen hätten, wäre ich jetzt tot.

Es gab keine Waffen in dem Gebäude, und obwohl es Gefechte in der Nachbarschaft gab, hat niemand von diesem Gebäude aus geschossen. Sie attackierten nur Orte, an denen sie mehrere Menschen sehen konnten, und es spielte keine Rolle für sie, ob diese tatsächlich an der Schießerei teilnahmen.“

Maria, die wie einige andere Interviewpartner ihren richtigen Namen aus Angst vor Repressionen nicht nennen möchte, berichtete Human Rights Watch, dass mindestens fünf Personen während des Angriffs verletzt, und zwei getötet worden waren.

Die Regierungstruppen verwendeten auch Granatwerfer während des Angriffs auf die Stadt. „Wasim“, ein Bewohner Idlibs, beschrieb Human Rights Watch, was er sah, als er ein Gebäude in der Ajama-Straße im nordwestlichen Teil der Stadt betrat, das am 10. März gegen 6 Uhr morgens attackiert wurde:
 
„Die Hälfte des Hauses war zerstört. Drei Kinder – zwei Mädchen und ein Junge – und ihr Vater waren getötet worden. Eines der Mädchen war von dem Gebäude gestürzt, sodass sie nun mitten auf der Straße lag. Die anderen Mitglieder der Familie waren ebenfalls verletzt. Es sah aus, als wenn das Haus am Dach getroffen worden war. Es gab keinen besonderen Grund, weshalb die Armee ausgerechnet dieses Gebäude angegriffen hatte. Sie schossen einfach auf alles. Sie sind verrückt. Sie haben kein spezielles Ziel.”

„Hassan”, ein Journalist mit großer Erfahrung in Kriegsgebieten, berichtete Human Rights Watch, dass eine der Personen, die die Verwundeten und Toten aus dem Gebäude in der Ajama-Straße heraustrugen, ihm die Überreste einer Waffenhülse brachte, die zur Bombardierung des Hauses benutzt worden war. Hassan identifizierte diese Überreste als Mörsergranate.

Ein anderer Journalist, der sich gerade außerhalb der Stadt befand, sagte, dass der Beschuss am 12. März, und mit geringerer Intensität auch am 13. März, fortgesetzt wurde.

Viele der Verletzten und Toten wurden in ein Krankenhaus in der Altstadt gebracht, das von der riesigen Anzahl an Opfern schnell überfordert war. Michael berichtete Human Rights Watch:

„Mindestens 20 Todesopfer wurden am ersten Tag in das Krankenhaus gebracht. Am zweiten Tag waren es sogar mehr – mindestens 30. Der dritte Tag war erschreckend. Ich glaube nicht, dass irgendjemand zu diesem Zeitpunkt Listen geführt hat. Ständig kamen neue Verwundete an. Das medizinische Personal versuchte, die Verletzten auf dem Boden der Korridore wiederzubeleben und ihnen zu helfen, weil es anderswo keinen Platz gab. Ärzte führten Operationen ohne geeignete Gerätschaften durch. Sie gaben ihr Bestes, aber sie waren sehr erschöpft.“

Hassan beschreibt dasselbe Krankenhaus auf ähnliche Weise:

„Im Krankenhaus war totales Chaos. Sie konnten die Anzahl an Todesopfern und Verletzten nicht bewältigen. Die Toten wurden sofort in einem nahe gelegenen Park beerdigt. Aber schon am Sonntag (11. März) war kein Platz mehr in dem Park, während der Park und die Schule dahinter attackiert wurden, sodass sie die Toten dort begraben mussten, wo immer sie Platz fanden.“

Vier der Zeugen, die Human Rights Watch interviewte, und die das Krankenhaus während des Angriffs besuchten, sagten, dass viele der Toten und Verletzten eindeutig nicht an den Gefechten teilgenommen hatten. Michael berichtete Human Rights Watch:

„Ich würde sagen, dass ungefähr die Hälfte der Opfer eindeutig Zivilisten waren. Es gab Frauen, Kinder, und Alte unter ihnen. Die meisten der Zivilisten wurden aufgrund des Beschusses verletzt oder getötet.“

Während die Regierungstruppen Teile der Stadt einnahmen, plünderten sie mehrere Geschäfte und Wohnungen; des Weiteren brannten sie vorsätzlich Häuser von verdächtigten Aktivisten nieder, wie Zeugen berichten. Wasim erzählte Human Rights Watch, dass sein Vater ihn angerufen hatte, nachdem er die Stadt am 12. März verlassen hatte, um ihm zu berichten, dass die Truppen viele Geschäfte in ihrer Straße zerstört hätten und das Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite in Brand gesetzt hätten.

Ein anderer Bewohner Idlibs, „Mustafa“, berichtete Human Rights Watch:

„Ich habe eine Liste von fast 30 Häusern, die alle abgebrannt wurden. Zumindest einige von diesen gehörten Aktivisten. In bestimmten Straßen wurden alle Läden und Geschäfte geplündert. Sie haben sogar den Tresor aus einigen Geschäften mitgenommen.“

Regierungstruppen nahmen auch zahlreiche Personen während der Offensive fest, sowohl in Idlib als auch in umliegenden Dörfern. Einige wurden freigelassen, während andere sich noch immer in Haft befinden.

Die von Human Rights Watch befragten Zeugen berichteten, dass es sehr schwer sei, die Stadt zu verlassen, da die Autobahn, die wie ein Ring um die Stadt Idlib liegt, von der syrischen Armee kontrolliert wird. Von den Regierungstruppen platzierte Landminen entlang der türkischen Grenze machten es den Menschen noch schwerer, vor den Angriffen der Regierung zu fliehen. Hassan schätzte, dass 85 Prozent der Bewohner Idlibs sich noch in der Stadt befinden.

„Die Armee kontrolliert die Autobahn”, so Hassan. „Die einzige Möglichkeit, hier raus zu kommen, ist, bei Nacht durch die Olivenbäume zu schleichen und zu versuchen, die Autobahn zu überqueren, ohne dass die Armee es bemerkt.“

Mustafa erzählte, dass er 15 Kilometer im Dunkeln durch die Felder gelaufen sei, um aus der Stadt herauszukommen.

Die Zeugen berichteten Human Rights Watch, dass auch vor der Offensive am 10. März Stadtbewohner durch gelegentlichen Beschuss und Scharfschützenfeuer getötet worden waren, jedoch in einem geringeren Ausmaß.

Ein Jahr nachdem der Aufstand in Syrien begann, haben Sicherheitskräfte laut Listen, die von örtlichen Aktivisten zusammengestellt wurden, mindestens 8000 Zivilisten getötet. Die Vetos von Russland und China haben verhindert, dass der Sicherheitsrat effektive Maßnahmen gegen Syrien ergreifen kann, trotz aller Beweise, dass dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden.

Der Sondergesandte der Vereinten Nationen, Kofi Annan, wird den Sicherheitsrat über seine Bemühungen am 16. März informieren. Human Rights Watch hat Russland und China dazu aufgefordert, einen Beschluss des Sicherheitsrates zu unterstützen, der Annans Bemühungen den bestmöglichen Rückhalt geben würde. Zudem forderte Human Rights Watch, dass die syrische Regierung die wahllose Bombardierung von Städten einstellt und humanitären Hilfsorganisationen, Journalisten und Menschenrechtsbeobachtern den Zugang zum Krisengebiet ermöglicht. Der Beschluss soll auch gezielte Sanktionen gegen verantwortliche Funktionäre beinhalten, die syrische Regierung mit einem Waffenembargo belegen und die Situation an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) überweisen.

Der UN Hochkommissar für Menschenrechte hat mehrmals empfohlen, dass der Sicherheitsrat die Situation an den Strafgerichtshof überweise. Ebenso hat eine wachsende Anzahl von Ländern ihre Unterstützung dafür bekräftigt. Am 13. März äußerte sich Österreich während einer Sitzung des UN Menschenrechtsrates im Namen von 13 Ländern, die den Aufruf des Hochkommissars unterstützen.

Human Rights Watch appellierte an alle anderen Länder, sich der wachsenden Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung anzuschließen, indem sie eine Überweisung an den IStGH unterstützen. Der Internationale Strafgerichtshof ist das geeignete Forum, um gegen diejenigen zu ermitteln, die die größte Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen in Syrien tragen.

Weitere Informationen zu den Übergriffen in Syrien finden Sie auf Englisch unter:

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