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(Bischkek, 8. Juni 2011) – Die Ermittlungen und Gerichtsverfahren zu den ethnischen Zusammenstößen im Süden Kirgisiens im Juni 2010 weisen grundlegende Mängel auf und untergraben die Bemühungen um Gerechtigkeit, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichen Bericht.

Der 86-seitige Bericht „Distorted Justice: Kyrgyzstan’s Flawed Investigations and Trials on the 2010 Violence“ kommt zu dem Schluss, dass die strafrechtlichen Ermittlungen zu den Gewaltakten im Jahr 2010 durch willkürliche Inhaftierung, Misshandlung und Folter stark beeinträchtigt wurden. Die Ermittlungsbehörden weigerten sich, den Foltervorwürfen nachzugehen. Die Gerichte verhängten häufig hohe Freiheitsstrafen auf der Grundlage von Geständnissen, die mutmaßlich unter Folter entstanden waren. Drohungen, Einschüchterungsversuche und in einigen Fällen sogar körperliche Gewalt gegen Angeklagte und Anwälte im Gerichtssaal blieben ungeahndet. Da die Missstände bei Ermittlungen und Gerichtsverfahren hauptsächlich die usbekische Minderheit betreffen, untergraben sie die Bemühungen zur Versöhnung und verstärken Spannungen, die zu erneuter Gewalt führen können.

„In vielen Fällen war der gesamte Prozess von der Verhaftung bis zur Urteilsverkündung von ungeheuerlichen Rechtsverletzungen durchzogen“, so Ole Solvang, Experte für Krisenregionen von Human Rights Watch. „Die Verbrechen, die während der Unruhen im Juni verübt wurden, müssen strafrechtlich verfolgt werden. Doch die Behörden sollen sich dabei an die Gesetze halten.“

Der Bericht basiert auf mehr als 40 Interviews mit Anwälten, Angeklagten, Opfern und Behördenvertretern.

Human Rights Watch fordert die kirgisischen Behörden auf:

  • die Misshandlung von Gefangenen unverzüglich politisch zu verurteilen und zu ächten;
  • die kirgisische Gesetzgebung so zu ändern, dass alle internationalen Verpflichtungen zur Verhütung und Bestrafung von Folter in vollem Umfang umgesetzt werden;
  • sämtliche Vorwürfe bezüglich Folter, Misshandlung und anderer Verletzungen der Rechte Gefangener rasch und unabhängig zu untersuchen;
  • eine offizielle Prüfung aller Fälle einzuleiten, die im Zusammenhang mit der Gewalt im Süden des Landes stehen;
  • in allen Fällen, in denen es zu schweren Verstößen kam, erneute Ermittlungen und Strafverfahren zu veranlassen;
  • dem UN-Sonderberichterstatter über Folter einen Besuch in Kirgisien zu ermöglichen.

Im Juni 2010 kam es in den südlichen Provinzen Osch und Dschalalabad vier Tage lang zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Angehörigen der kirgisischen und usbekischen Volksgruppe. Dabei wurden mehr als 400 Menschen getötet, fast 2.000 Häuser zerstört und Gräueltaten gegen Angehörige beider Volksgruppen verübt.

Die Ermittlungen von Human Rights Watch ergaben, dass die Behörden im Süden des Landes bei ihren Untersuchungen der Vorfälle im großen Umfang auf Folter zurückgegriffen haben. Human Rights Watch liegen glaubwürdige Informationen über den Einsatz von Folter und Misshandlung in 65 Fällen vor. In vielen dieser Fälle belegt umfangreiches Beweismaterial die Aussagen der Opfer, etwa Fotos der durch die Folter entstandenen Verletzungen, medizinische Unterlagen sowie Aussagen von Anwälten, Verwandten und anderen Häftlingen, die während der Haft Kontakt mit den Opfern hatten. Es gibt überzeugende Beweise, dass mindestens eine Person durch Folter während der Haft ums Leben kam.

Trotz der zahlreichen fundierten Vorwürfe haben die kirgisischen Behörden nur ein einziges Ermittlungsverfahren wegen Folter und Misshandlung eingeleitet, das jedoch wieder eingestellt wurde. Selbst in einem Fall, in dem der Richter den Angeklagten freigesprochen hatte, weil sein Geständnis durch Folter erzwungen worden war, gingen die Ermittlungsbehörden den Foltervorwürfen nicht weiter nach.

Viele Richter unterließen es, Foltervorwürfe kritisch zu prüfen. In den meisten Fällen ignorierten sie die Anschuldigungen. Die Gerichte gaben zudem „Geständnissen“ trotz ihrer zweifelhaften Zuverlässigkeit eine unangemessen große Bedeutung und verhängten auf dieser Grundlage teilweise hohe Freiheitsstrafen. In einigen Fällen schienen die Richter bewusst entlastende Aussagen und Beweismittel zu übergehen.

„Die völlige Straflosigkeit für Folter behindert die Rechtsfindung und signalisiert Polizei und Sicherheitskräften, dass Folter auch in Zukunft ein hinnehmbares Mittel bleibt“, so Solvang.

Human Rights Watch dokumentierte zahlreiche Fälle, in denen Angeklagte, ihre Strafverteidiger, Angehörige und andere im Gerichtsaal Anwesende während der Verhandlung durch Personen aus dem Publikum bedroht, belästigt, eingeschüchtert und mitunter sogar körperlich angegriffen wurden. Die Vorsitzenden Richter und die anwesenden Vollzugsbeamten ließen die Attacken zumeist ungeahndet. Das äußerst feindselige und gewaltsame Umfeld, in dem die Verhandlungen stattfanden, beeinträchtige nach Einschätzung von Human Rights Watch das Recht der Angeklagten auf ein faires Gerichtsverfahren.

Bei den Zusammenstößen im Juni 2010 waren die meisten Opfer Angehörige der usbekischen Volksgruppe, die auch einen Großteil der Todesopfer und zerstörten Häuser zu beklagen hatte. Dennoch waren nahezu 85 Prozent der Verhafteten und Angeklagten Usbeken. Von 124 wegen Mordes angeklagten Personen gehörten 115 der usbekischen Minderheit an. Zusammen mit Aussagen von Opfern, die über rassistische Äußerungen und eine Betonung der Volkszugehörigkeit durch die Vollzugsbeamten berichteten, werfen diese Zahlen ernsthaft die Frage auf, inwieweit ethnische Gesichtspunkte bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der Zusammenstöße eine Rolle gespielt haben.

Der im April 2011 neu ernannte Oberstaatsanwalt ordnete kurz nach seiner Ernennung an, alle Vorwürfe wegen Folter und ähnlicher Verstöße zügig zu untersuchen, so dass alle Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Human Rights Watch begrüßte diese Anordnungen, gab jedoch zu bedenken, dass sie der Straflosigkeit für Folter bislang noch kein Ende bereitet haben.

„Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass es den Behörden eher darum ging, die kirgisische Mehrheit zufrieden zu stellen, als für Gerechtigkeit und strafrechtliche Verantwortlichkeit zu sorgen“, so Solvang. „Auf diese Weise lassen sich weder Versöhnung noch eine friedliche Zukunft erreichen. Die Regierung muss diese Probleme unverzüglich beheben.“

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