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(Bischkek, 16. August 2010) - Staatliche Sicherheitskräfte haben bewusst oder unbewusst Angriffe auf usbekische Viertel während der gewaltsamen Unruhen im Juni in Südkirgisien ermöglicht, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Auch lokale Sicherheitsbehörden haben die usbekische Volksgruppe nicht angemessen geschützt.

Der 91-seitige Bericht „'Where is the Justice?': Interethnic Violence in Southern Kyrgyzstan and its Aftermath" stellt außerdem fest, dass die von der Regierung eingeleitete Untersuchung der gewaltsamen Unruhen, die Hunderte Tote und Tausende Verletzte forderten, von Menschenrechtsverletzungen begleitet wurde, als neue ethnisch motivierte Ausschreitungen im Süden des Landes ausbrachen. Die Behörden sollen gründlich untersuchen, welche Rolle die Sicherheitskräfte bei den Gewalttaten spielten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.

Der Bericht basiert auf mehr als 200 Interviews mit kirgisischen und usbekischen Opfern und Zeugen, Anwälten, Menschenrechtsverteidigern, Regierungsbeamten und Strafverfolgern. Der Bericht analysiert auch Satellitenbilder und Fotos, Videos, Dokumentarfilme und forensisches Beweismaterial.

„Es ist offensichtlich, dass die massive ethnische Gewalt eine enorme Herausforderung für die kirgisischen Sicherheitskräfte darstellt", so Ole Solvang, Experte für Krisenregionen von Human Rights Watch und einer der Autoren des Berichts. „Trotzdem haben wir festgestellt, dass einige Sicherheitskräfte eher Teil des Problems als der Lösung wurden."

Die Gewalt in den südlichen Teilen Kirgisiens brach am 10. Juni aus, als sich eine große Gruppe ethnischer Usbeken versammelte, um auf eine kleine Auseinandersetzung zwischen Kirgisen und Usbeken in einem Casino im Zentrum von Osch zu reagieren. Als es in der Nacht des 10. Juni zu mehreren gewalttätigen Angriffen auf ethnische Kirgisen kam und Gebäude in Brand gesetzt wurden, führte dies zu einer wütenden Gegenreaktion ethnischer Kirgisen aus Osch und den umliegenden Dörfern. Tausende strömten daraufhin in die Stadt. Ab dem frühen Morgen des 11. Juni bis zum 14. Juni wurden usbekische Wohnviertel angegriffen, deren Bewohner sich teilweise wehrten. Banden zogen plündernd durch die Straßen und steckten usbekische Geschäfte und Wohnhäuser in Osch, Dschalalabad, Bazar-Kurgan und anderen Städten im Süden des Landes in Brand - in einigen Gebieten wurden ganze Viertel zerstört.

Mindestens 371 Menschen, wahrscheinlich jedoch viele mehr, starben bei den Ausschreitungen. Mehrere tausend Gebäude, die meist Usbeken gehörten, wurden komplett zerstört.

Zeugen aus den zerstörten Vierteln berichteten Human Rights Watch einstimmig, dass Männer in Tarnuniformen in gepanzerten Militärfahrzeugen provisorische Barrikaden abbauten, die von den Bewohnern errichtet worden waren. Dadurch erhielten die Banden Zugang zu den usbekischen Wohngebieten. Laut Zeugenaussagen folgten bewaffnete Männer den gepanzerten Militärfahrzeugen in die Viertel, schossen auf die zurückgebliebenen Bewohner und verjagten sie. Danach konnte der Mob Häuser plündern und niederbrennen.

Während die Behörden behaupten, dass die Waffen und Fahrzeuge, die von den Kirgisen bei den Übergriffen verwendete wurden, gestohlen worden waren, kann dies nicht vollends den Einsatz der Militärfahrzeuge bei den Angriffen erklären. Informationen, die von Human Rights Watch gesammelt wurden, deuten darauf hin, dass zumindest in einigen Vierteln Regierungskräfte die Fahrzeuge kontrollierten. Zudem haben Sicherheitskräfte der Regierung, als sie die Bewohner der betroffenen Viertel entwaffnen sollten, in einigen Fällen entweder absichtlich oder unabsichtlich dem gewalttätigen Mob Deckung gegeben. Auch muss untersucht werden, ob die Truppen aktiv an den Angriffen teilnahmen und wenn ja, in welchen Ausmaß.

Die Behörden mögen legitime Sicherheitsgründe gehabt haben, in die usbekischen Viertel einzudringen. Doch konnten sie die Sicherheit der usbekischen Bewohner nicht gewährleisten angesichts der offensichtlichen und unmittelbaren Bedrohung durch die Banden.

„Nationale und internationale Untersuchungen müssen herausfinden, wie die Sicherheitskräfte reagiert haben und ob die Behörden alles getan haben, um die Menschen zu beschützen", sagt Solvang. „Dies ist entscheidend, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, aber auch, um zu lernen, wie auf neue Unruhen reagiert werden kann."

Während der Untersuchung durch kirgisische Behörden zu den Ausschreitungen im Juni haben weitere Menschenrechtsverletzungen stattgefunden mit nun mehr als 3.500 Fällen von Misshandlung.

Der Bericht dokumentiert groß angelegte Razzien in usbekischen Vierteln, bei denen die Sicherheitskräfte Bewohner geschlagen und beleidigt sowie Wohnungen geplündert haben. Während eines Einsatzes im Dorf Nariman haben Sicherheitskräfte 39 Bewohner verletzt, von denen zwei daraufhin an ihren Verletzungen starben.

Der Bericht dokumentiert außerdem Durchsuchungen und Festnahmen, bei denen Menschenrechtsverletzungen stattfanden und die Sicherheitskräfte täglich in den überwiegend usbekischen Vierteln von Osch durchführten. Dutzende Zeugen lieferten übereinstimmende Aussagen darüber, wie die Sicherheitskräfte Wohnungen durchsuchten, ohne sich auszuweisen, einen Durchsuchungsbefehl vorzuweisen oder dies zu rechtfertigen. Festnahmen wurden ohne Haftbefehl durchgeführt; Angehörigen wurde der Aufenthaltsort von Verhafteten nicht mitgeteilt; und in einigen Fällen wurden die Festgenommenen geschlagen und Beweise manipulierten, wie z.B. verschossene Patronen.

Die Behörden verweigerten den Inhaftierten regelmäßig das Rech auf einen Anwalt und andere Rechte; sie wurden in der Haft misshandelt und gefoltert. Human Rights Watch erhielt Informationen über Folter und Misshandlung von über 60 Inhaftierten, von denen mindestens einer an seinen Verletzungen starb, die ihm während der Haft zugefügt worden waren.

Während kirgisische Behörden keine Zahlen herausgegeben habe, die die Festgenommenen nach ethnischen Kriterien unterteilen, und behaupten, dass sie sowohl kirgisische als auch usbekische Verdächtige festgenommen haben, lassen Informationen von Human Rights Watch vermuten, dass die Mehrheit der Inhaftierten ethnische Usbeken sind.

Human Rights Watch hat in Gesprächen mit kirgisischen Behörden, einschließlich der Präsidentin und des Innenministers, und lokalen Sicherheitskräften auf willkürliche Festnahmen und Folter hingewiesen.

Leitende Regierungsbeamte in Bischkek haben zwar immer wieder lokale Regierungsmitarbeiter aufgerufen, die Misshandlungen zu beenden. Und in einem Interview im August bestätigte die Präsidentin Rosa Otunbajewa sogar, dass Menschenrechtsverletzungen stattgefunden haben. Trotzdem wiesen Sicherheitskräfte in Osch die Vorwürfe zurück und verteidigten ihre Vorgehensweise.

„Die Verantwortlichen für die abscheulichen Gewalttaten an Usbeken und Kirgisen im Juni müssen unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe, ihrem Titel und ihrem Rang bestraft werden", so Solvang. „Es kann jedoch keine anständige Untersuchung geben, solange die Behörden kirgisisches und internationales Recht missachten, und es gibt keinen Grund, warum die kirgisischen Behörden die Misshandlungen in der Haft nicht sofort beenden können."

Human Rights Watch wies darauf hin, dass weitere Menschenrechtsverletzungen die Spannungen unter den ohnehin instabilen Verhältnissen noch schüren. Am 22. Juli verständigten sich die Mitglieder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), eine kleine Polizeieinheit in Südkirgisien zu stationieren, die die kirgisischen Behörden bei der Eindämmung der ethnischen Spannung unterstützen soll. Human Rights Watch appellierte an die OSZE, eine schnelle Stationierung und die Wirksamkeit des Einsatzes der Polizeikräfte sicherzustellen. Zudem sollen auch interessierte Regierungen und die Vereinten Nationen eine internationale Untersuchung der Gewalt und ihrer Folgen unterstützen.

„Die gewaltsamen Unruhen im Juni habe tiefe Narben hinterlassen", sagte Solvang. „Damit diese Narben heilen können, muss Gerechtigkeit für das begangene Unrecht gewährt und alle Volksgruppen in gleicher Weise geschützt werden."

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