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(Kairo, 30. Januar 2011) – Folter ist ein erhebliches Problem in Ägypten. Die Forderung nach einem Ende von Polizeigewalt hat ganz wesentlich zu den Massendemonstrationen beigetragen, die während des Wochenendes in ganz Ägypten stattgefunden haben, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die ägyptische Regierung soll umgehend Folter strafrechtlich verfolgen und die Notstandsgesetze aufheben, die eine Kultur der Straflosigkeit für die Sicherheitskräfte ermöglichen.

Der 95-seitige Bericht „‚Work on Him until He Confesses’: Impunity for Torture in Egypt“ dokumentiert, wie die Regierung unter Husni Mubarak Polizeigewalt stillschweigend duldet. Wenn Sicherheitskräfte der Folter beschuldigt werden, werden die Vorwürfe nicht untersucht und strafrechtlich verfolgt, wodurch die Opfer ohne Gerechtigkeit zurück bleiben.

„Die Ägypter verdienen einen klaren Bruch mit der unglaublich tief verankerten Praxis der Folter“, sagt Joe Stork, stellvertretender Direktor der Abteilung Naher Osten und Nordafrika von Human Rights Watch. „Das völlig inakzeptable bisherige Vorgehen der ägyptischen Regierung in dieser Sache ist ein wesentlicher Grund, warum die Massen weiter auf die Straße gehen.“

Der Fall von Khaled Said, eines 28-jährigen Mannes, der im Juni in Alexandria von zwei Polizisten in zivil auf offener Straße zu Tode geprügelt wurde, war in den Schlagzeilen und hat zu Demonstrationen in dem Land geführt. Der Staatsanwalt stellte die Ermittlungen zunächst ein und ordnete Saids Begräbnis an. Auf Grund der eskalierenden öffentlichen Proteste wurden die Ermittlungen jedoch wieder aufgenommen und ein Gerichtsverfahren eingeleitet. „Wir sind alle Khaled Said“ – so heißt eine Facebook-Gruppe, die zu den Massenprotesten am 25. Januar 2011 beigetragen hat.

In dem Bericht werden Regierungsbeamte aufgefordert, umgehend rechtliche, strukturelle und politische Reformen durchzuführen, damit das Justizsystem die Verantwortlichen für Folter zur Rechenschaft zieht und zukünftige Menschenrechtsverletzungen verhindert werden. Dutzende Fälle von Folter und von Personen, die in Gefängnissen starben, werden untersucht, zu denen Opfer oder ihre Familien Klage eingereicht haben.

Die meisten dieser Beschwerden werden jedoch nie vor Gericht verhandelt, weil die Opfer und Zeugen, die die Klage eingereicht haben, von der Polizei eingeschüchtert werden, die rechtlichen Rahmenbedingungen unangemessen sind und die Opfer zu spät medizinisch untersucht werden. Zudem sind Polizisten aus der gleichen Einheit für die Beweisaufnahme und die Vorladung der Zeugen zuständig, aus der auch der mutmaßliche Täter stammt.

Der Fall Khaled Said war jedoch eine Ausnahme, einer der wenigen, in denen mediale Berichterstattung und öffentliche Empörung dazu führten, dass leitende Vertreter der Staatsanwaltschaft den Fall übernahmen. Nur so war eine schnelle und vollständige Untersuchung gewährleistet. Im November 2009 veröffentlichte die Regierung Statistiken, nach denen zwischen 2006 und 2009 nur sechs Polizeibeamte wegen Folter und unmenschlicher Behandlung verurteilt worden waren, trotz Hunderter Klagen wegen Folter und Tod in Gewahrsam. Die Verurteilung eines siebten Polizisten zu fünf Jahren Haft wurde im Juli 2010 von einem Berufungsgericht in Alexandria bestätigt.

„In einem Land, in dem Folter ein gravierendes und systematisches Problem darstellt, zeigt die Verurteilung von gerade einmal sieben Polizeibeamten in einem Zeitraum von vier Jahren, dass die Verbindung zur Wirklichkeit verlorengegangen ist. Hunderte Opfer und Familien erfahren keine Gerechtigkeit“, so Stork.

Human Rights Watch stellt fest, dass Polizeibeamte Folter und Misshandlungen routinemäßig und vorsätzlich einsetzen, in gewöhnlichen Kriminalfällen als auch gegen Dissidenten und politische Gefangene, um Geständnisse oder andere Informationen zu erzwingen oder einfach, um Inhaftierte zu bestrafen.

Ahmad Abd al-Mo’ez Basha, ein 22-jähriger Taxifahrer aus Imbaba in Kairo, berichtete Human Rights Watch, wie er im Juli 2010 von Polizisten in seiner Wohnung festgenommen wurde:

Sie brachten mich in einen Raum auf dem Polizeirevier von Imbaba. Zwei Polizisten kamen herein und forderten mich auf, zu gestehen. Ich fragte sie, was. Sie antworten: „Gib den Diebstahl zu.“ Der Chef der Kriminalpolizei sagte: „Bearbeitet ihn, bis er gesteht.“ Sie legten mir Handschellen an und hängten mich länger als zwei Stunden an die Tür. Sie hatten Peitschen und schlugen meine Beine, meine Fußsohlen und meinen Rücken. Nachdem sie mich heruntergenommen hatten, holten sie ein schwarzes Gerät und gaben mir vier- oder fünfmal Stromschläge auf die Arme, bis es zu qualmen anfing. Sie sagten immer wieder. „Du musst gestehen.“ Am nächsten Morgen schlugen sie mich wieder und haben mit einem Kabel meinen Rücken und meine Schultern gepeitscht. Nach drei Stunden bin ich ohnmächtig geworden.

Besonders gravierend ist die Straflosigkeit für Folter bei der ägyptischen Staatssicherheit (SSI), einer Abteilung des Innenministeriums, die für die Überwachung politischer Dissidenten verantwortlich ist, so Human Rights Watch. Die SSI ist routinemäßig an erzwungenem Verschwindenlassen beteiligt. Sie hält Verdächtige über lange Zeiträume in ihren Einrichtungen fest, verheimlicht, dass sie sich in Gewahrsam befinden, oder weigert sich, über ihren Verbleib Auskunft zu geben. Die Gefangenen dürfen keinen Kontakt zu ihren Anwälten, Familien oder Ärzten aufnehmen.

Die Einrichtungen der SSI sind keine legalen Gefängnisse. Das ägyptische Recht verbietet die Inhaftierung in Einrichtungen, die keine Polizeireviere oder offiziellen Gefängnisse sind. Die Regierung streitet ab, dass die SSI in ihren Räumlichkeiten – in denen Gefangene häufig gefoltert werden – Verdächtige fest hält, obwohl glaubwürdige Zeugenaussagen dem widersprechen. Wenn eine Person verhaftet und ihre Inhaftierung geleugnet oder nicht bestätigt wird, so dass die Person dem Schutz des Gesetzes entzogen wird, handelt es sich um Verschwindenlassen. Dies ist, genau wie Folter, ein schwerwiegender Verstoß gegen das Völkerrecht.

Kein einziger SSI-Beamte wurde jemals wegen Folter verurteilt, obwohl in mindestens drei Verfahren Beamte vor Gericht aussagten. Ein ehemaliger SSI-Gefangener und Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft, Nasr al-Sayed Hassan Nasr, berichtete Human Rights Watch von seinem 60 Tage dauernden SSI-Gewahrsam 2010. Er gab an, dass seine Augen während des gesamten Zeitraums verbunden waren.

Sie haben mir mit einem Schuh ins Gesicht geschlagen. Sie haben mir in die Hoden getreten, bis ich zu Boden gegangen bin. Sobald ich am Boden lag, haben sie mich mit Elektroschocks gezwungen, wieder aufzustehen, und dann haben sie mir wieder in die Hoden getreten. Irgendwann hat ein Polizist versucht, mich zu strangulieren. Sie haben oft die Wächter gerufen und ihnen gesagt: „Um vier bringt ihr Nasrs Frau und seine Töchter hier her und zieht sie vor seinen Augen aus.“ Sie haben mich fotografiert, während ich nackt war und gefoltert wurde, und haben damit gedroht, die Bilder zu veröffentlichen.

Opfer und Familien von Opfern, die Beschwerde eingereicht hatten, berichteten Human Rights Watch übereinstimmend, dass Polizeibeamte versucht haben, sie einzuschüchtern, damit sie ihre Beschwerde zurückziehen oder einer außergerichtlichen Einigung zustimmen. Der Umstand, dass die Polizeieinheiten, denen Misshandlungen zur Last gelegt werden, an der Beweisfindung und der Vorladung von Zeugen beteiligt sind, ist ein wesentlicher Faktor, der unparteiliche Ermittlungen verhindert, so Human Rights Watch. Staatsanwälte überprüfen die Beweise und die Qualität der polizeilichen Ermittlungen nicht ordentlich – aus Mangel an Zeit oder politischem Willen. Die Polizei führt die Anordnung eines Staatsanwalts, einen Beschwerdeführer von einem Gerichtsmediziner untersuchen zu lassen, oft so spät aus, dass keine physischen Beweise für Misshandlungen mehr auffindbar sind.

„Opfer von Misshandlungen müssen sicher sein, dass die Justiz ihre Rechte schützt und dass sie der Staatsanwaltschaft ihre Beschwerden vorlegen können, ohne Repressalien zu fürchten“, sagt Stork.

Zur Straflosigkeit trägt auch bei, dass das ägyptische Recht Folter nicht in dem Umfang kriminalisiert, den das Völkerrecht vorschreibt. Die Definition von Folter in Art. 126 des Strafgesetzbuches schließt Folterakte aus, die aus anderen Gründen als zum Erpressen von Geständnissen vollzogen werden, etwa zur Bestrafung oder Einschüchterung. Das ägyptische Recht sieht lediglich ein Strafmaß von drei bis fünf Jahren vor. Diese Strafe ist der besonderen Schwere des Verbrechens nicht angemessen. Darüber hinaus gesteht das Strafgesetz den Richtern einen Ermessensspielraum zu, den sie häufig nutzen, um Angeklagte zu begnadigen und das Strafmaß zu reduzieren. Im November 2009 und erneut im Februar 2010 verpflichtete sich die ägyptische Regierung im Rahmen ihres allgemeinen Staatenüberprüfungsverfahrens (Universal Periodic Review, UPR) vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, die Definition von Folter dem völkerrechtlichen Standard anzupassen. Aber mehr als ein Jahr später ist nicht festzustellen, dass die Regierung mit der Umsetzung dieser Zusage begonnen hätte.

Human Rights Watch fordert die ägyptische Regierung auf, alle glaubhaften Folter- und Misshandlungsvorwürfe zu überprüfen, auch dann, wenn keine offizielle Beschwerde vorliegt. Die Staatsanwaltschaft muss die Untersuchungen schnell, unparteilich und vollständig durchführen, so dass gewährleistet ist, dass gegen alle Verantwortlichen, auch gegen Vorgesetzte, ermittelt wird. Gerichtsmedizinische Untersuchungen müssen schnellstmöglich durchgeführt werden. Mutmaßliche Täter dürfen nicht an der Beweisfindung beteiligt sein oder mit den Beschwerdeführern oder Zeugen interagieren. Die Regierung muss die illegale Inhaftierung von Verdächtigen durch die SSI beenden und Staatsanwälte dazu ermächtigen, ihre Einrichtungen unangekündigt zu besuchen, um die Einhaltung des Verbots zu gewährleisten.

Human Rights Watch ruft die Europäische Union und die USA dazu auf, sich öffentlich gegen Folter in Ägypten auszusprechen und das Versagen der Regierung zu rügen, diese Praktik zu unterbinden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

„Misshandlungen durch die Polizei werden alltäglich, wenn die Beamten und ihre Vorgesetzten nicht bestraft werden“, so Stork. „Dies ist ein Grund dafür, dass letzte Woche so viele Menschen auf die Straße gegangen sind, um ein Ende der Polizeigewalt einzufordern. Ägypten muss dem Verbrechen der Folter entschieden entgegentreten. Am Anfang muss eine Reform des mangelhaften Ermittlungsprozesses stehen, die eindeutig signalisiert, dass Folterer zur Verantwortung gezogen werden.“

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