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China: Diskriminierung und Ausgrenzung von Kindern mit Behinderung beenden

Inklusives Bildungsystem durch Abbau von Hindernissen in Schulen verwirklichen

(New York) – Kinder mit Behinderung stehen in China vor erheblichen Schwierigkeiten, wenn sie Zugang zu Bildung erhalten wollen. Ein erheblicher Anteil von ihnen erhält überhaupt keine Schulbildung, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Regierungsbestimmungen für das Hochschulwesen erlauben es Universitäten, Bewerber bzw. Studenten mit bestimmten körperlichen oder geistigen Behinderungen abzulehnen bzw. auszuschließen.

In China leben offiziellen Zahlen zufolge mindestens 83 Millionen Menschen mit Behinderung. Mehr als 40 Prozent von ihnen können weder lesen noch schreiben. Laut den Statistiken der Regierung besucht nahezu jedes Kind in China eine Grundschule. Dies gilt allerdings nicht für Kinder mit Behinderung, von denen 28 Prozent nicht die ihnen zustehende grundlegende Schulbildung erhalten.

Der 75-seitige Bericht „‘As Long as They Let Us Stay in Class’: Barriers to Education for Persons with Disabilities in China“ dokumentiert, wie schwer es für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ist, eine gewöhnliche Schule in ihrem Wohnumfeld zu besuchen.

Der Human Rights Watch-Bericht stützt sich auf mehr als 60 Interviews, die vorwiegend mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung sowie mit deren Eltern geführt wurden. Zudem wurden offizielle Daten und Sachverständigenurteile zur chinesischen Bildungspolitik herangezogen. Die chinesische Regierung hat neue Bestimmungen und Regeln für den Bildungszugang von Menschen mit Behinderung eingeführt und versprochen, die Einschulungsrate unter Kindern mit Behinderung zu erhöhen, und ihnen verschiedenste Schulgebühren erlassen. Der Bericht zeigt dennoch, wie Schulen diesen Schülern die Aufnahme verweigern, sie zum Schulabbruch drängen oder ihnen keine angemessene Ausstattung zur Verfügung stellen, welche es ihnen ermöglichen würde, die mit ihrer Behinderung verbundenen Hindernisse zu überwinden.

„Kinder mit Behinderung haben wie alle anderen Kinder ein Recht darauf, ganz normal zur Schule zu gehen. Außerdem steht ihnen eine Förderung entsprechend ihrer besonderen Lernbedürfnisse zu“, so Sophie Richardson, China-Direktorin von Human Rights Watch. „Doch viele Schulen bieten ihnen nicht das, was sie brauchen, oder verweigern es ihnen schlichtweg.“

Mit der Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) machte die chinesische Regierung im Jahr 2008 einen wichtigen Schritt nach vorn. Die Konvention verpflichtet China, ein integratives Bildungssystem aufzubauen, in dem allgemeine Bildungseinrichtungen für Kinder mit Behinderung zugänglich sind und in dem alle Kinder gemeinsam lernen und spielen. Untersuchungen zufolge erzielen sowohl Kinder mit Behinderung als auch Kinder ohne Behinderung in einem integrativen Umfeld bessere Lernerfolge, insofern sie angemessen gefördert werden.

Aktuell dürfen Kinder mit Behinderung nur dann herkömmliche Schulen besuchen, wenn sie die „Fähigkeit zur Anpassung“ an die physischen Gegebenheiten und das Lernumfeld der Schule nachweisen können. Integration lässt sich zweifellos nicht über Nacht herstellen, doch der chinesischen Regierung fehlt eine klare und einheitliche Strategie zum Erreichen dieses Ziels. Zudem setzt sie nur geringe Mittel für die Integration von Schülern mit Behinderung in das etablierte Schulsystem ein.

Die Regierung ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Schulen allen Schülern mit Behinderung „angemessene Einrichtungen“ zur Verfügung stellen, um die Auswirkungen ihrer Einschränkungen auf den Lernerfolg so gering wie möglich zu halten. Ausnahmen sind nur zulässig, wenn solche Einrichtungen dem Staat erhebliche Schwierigkeiten oder Ausgaben verursachen würden. Human Rights Watch fand im allgemeinen Schulsystem jedoch wenig bis keine solchen Einrichtungen vor. Dies galt für alle Altersstufen. In einem Fall erklärten Eltern ausdrücklich, die Schule habe sie darüber informiert, dass – da ihr Kind sich in „einem normalen Umfeld“ befinde – es dem Kind obliege, sich anzupassen, und nicht die Schule. In einem anderen Fall erklärte eine Mutter, sie müsse ihr Kind täglich mehrmals eine Treppe hoch- bzw. heruntertragen, da sich Klassenzimmer und Toilette auf unterschiedlichen Etagen befänden. Teilweise ignorieren Lehrer Kinder mit Behinderung vollständig, da sie aufgrund ihrer mangelhaften oder fehlenden Ausbildung im Bereich der integrativen Erziehung nicht wissen, wie sie deren Bedürfnissen gerecht werden können.

Schüler mit Behinderung, denen es trotz dieser Hindernisse gelingt, weiterführende Schulen zu besuchen, stoßen dort auf weitere Erschwernisse. Gemäß offizieller Bestimmungen müssen Schüler sich medizinischen Untersuchungen unterziehen, deren Ergebnisse im Rahmen des Bewerbungsprozesses an Universitäten weitergeleitet werden. Die Richtlinien der Regierung gestatten es Universitäten zudem, die Aufnahme von Bewerbern mit bestimmten körperlichen oder geistigen Behinderungen zu begrenzen oder zu verweigern. So kann Bewerbern mit Sehbehinderungen etwa der Zugang zu rund einem Dutzend Studiengängen verwehrt werden – von Dutzend weiteren, etwa Jura oder Ökologie, wird ihnen abgeraten.

Obwohl Schüler mit Behinderung Zugang zu spezialisierten Schulen haben, die im Allgemeinen gut ausgestattet sind, bedeutet der Besuch dieser Schulen eine gesellschaftliche Ausgrenzung von Schülern mit Behinderung. Zudem verlangen sie in vielen Fällen, dass Kinder schon in sehr jungem Alter von ihren Familien getrennt werden. Die Schulen verfügen außerdem nur über ein begrenztes Bildungsangebot jenseits der unteren Mittelstufe.

Bei der Umsetzung eines integrativen Bildungsangebots tragen die Lehrer eine Schlüsselrolle. Dennoch gaben die meisten Befragten an, dass Lehrer an herkömmlichen Schulen ihre Unterrichtsmethoden nur in Ausnahmefällen an die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderung anpassen.

Lehrer an chinesische Schulen erhalten kaum institutionelle Unterstützung: Trotz Klassengrößen von häufig 30 bis 60 Schülern, stehen ihnen keine Hilfskräfte zur Verfügung und sie erhalten keine Ausbildung in integrativer Unterrichtsgestaltung. Ihre Schulen erhalten wenig bis gar keine Finanzmittel für die Bereitstellung behindertengerechter Einrichtungen.

„In jedem Klassenzimmer sitzen Kinder mit unterschiedlichsten Lernpotenzialen zusammen. Ihre Lehrer müssen über die nötigen Qualifikationen verfügen, um sie alle zum Lernen zu ermuntern und in ihrer Entwicklung zu fördern“, so Richardson. „Schon eine Verbesserung der Lehrerausbildung könnte einiges dazu beitragen, dem Problem der Ausgrenzung entgegenzutreten.“

Der Bericht dokumentiert auch Versäumnisse auf Seiten der quasi-staatlichen Vereinigung Behinderter Menschen in China (CDPF) und des Bildungsministerium im Hinblick auf die Bekämpfung von Diskriminierung, die Bereitstellung einer angemessenen Ausstattung in gewöhnlichen Schulen und die Aufklärung von Eltern und Kindern mit Behinderungen über ihre Rechte und Optionen im Bildungssystem.

Human Rights Watch fordert die chinesische Regierung auf, eine klare Strategie für den Aufbau eines integrativen Bildungssystems zu entwickeln. Sie soll zudem die bestehenden Gesetze und Bestimmungen reformieren und in Übereinstimmungen mit China Verpflichtungen im Rahmen der CRPD bringen. Obwohl die 1994 eingeführten Bestimmungen für die Ausbildung von Menschen mit Behinderungen derzeit überarbeitet werden und der neue Entwurf einige Verbesserungen enthält, erfüllt er immer noch nicht die rechtlichen Verpflichtungen der Regierungen im Sinne der CRPD.

Human Rights Watch appelliert zudem an China, Richtlinien für angemessene Unterkünfte zu formulieren, die der CRPD entsprechen, und einen Monitoring-Mechanismus zu schaffen, der effektiv gegen Fällen von Diskriminierung vorgehen kann. Zudem soll die Regierung Eltern durch Informations- und Sensibilisierungsprogramme unterstützen, damit sie über die Rechte und Bildungsmöglichkeiten ihrer Kinder informiert sind.

„Der Aufbau eines integrativen Bildungssystems ist mehr als nur eine gesetzliche Verpflichtung“, so Richardson. „Er ist auch entscheidend für die Bekämpfung von Vorurteilen und Diskriminierung und zur Schaffung einer toleranten und einbeziehenden Gesellschaft.“

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