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(Nairobi, 15. August 2011) – Alle an dem bewaffneten Konflikt in Somalia beteiligten Parteien haben schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht begangen und dadurch zu der humanitären Katastrophe im Land beigetragen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Alle Seiten sollen die Übergriffe auf Zivilisten unverzüglich beenden, die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und den Menschen, die vor dem Konflikt und der Dürre fliehen, Zugang zu Hilfe gewährleisten und sicherstellen, dass sie sich frei bewegen können.

Der 58-seitige Bericht „You Don’t Know Who to Blame: War Crimes in Somalia“ dokumentiert zahlreiche Übergriffe während der im vergangenen Jahr neu aufgeflammten Kämpfe in Somalia. Verantwortlich für die aktuellen Übergriffe in dem seit 20 Jahren andauernden Konflikt sind die bewaffnete islamistische Gruppierung Al-Shabaab, die somalische Übergangsregierung (Transitional Federal Government, TFG), die Friedenstruppe der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM) sowie die von Kenia und Äthiopien unterstützten somalischen Milizen. Der Bericht befasst sich auch mit Übergriffen durch die kenianische Polizei und Verbrechen von Banditen im benachbarten Kenia gegen somalische Flüchtlinge.

„Durch die Übergriffe der Al-Shabaab und regierungsnaher Kräfte hat sich die Lage in dem unter Hungersnot leidenden Somalia dramatisch zugespitzt“, so Daniel Bekele, Direktor der Afrika-Abteilung von Human Rights Watch. „Alle Seiten müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um diesen rechtswidrigen Angriffen ein Ende zu bereiten, Hilfe ins Land zu lassen und diesen humanitären Albtraum zu beenden.“

Der Bericht beruht neben anderen Quellen auf Interviews mit somalischen Flüchtlingen, die kurz zuvor in Kenia angekommen waren, und beleuchtet zwei schwere Angriffe der TFG gegen Al-Shabaab seit September 2010, bei denen vor allem Zivilisten die Leidtragenden waren.

In der Hauptstadt Mogadischu haben alle Parteien schwere Waffen auf unrechtmäßige Weise eingesetzt, sodass es zu zivilen Opfern kam. Al-Shabaab feuerte aus dicht besiedelten Stadtteilen wahllos Mörsergranaten ab, die Truppen der TFG und der AMISOM schlugen oft mit der gleichen Willkür zurück. Dadurch wusste die Zivilbevölkerung nicht, wo sie Schutz suchen sollte. Der Rückzug der Al-Shabaab aus Mogadischu mag der Bevölkerung in der Hauptstadt eine Atempause von den ununterbrochenen Kämpfen verschaffen, weitere Übergriffe sind jedoch wahrscheinlich, es sei denn, die Konfliktparteien setzen sich verbindlich für deren Beendigung ein.

„Die Bevölkerung wird von keiner Seite verschont“, sagte eine Frau, die aus Mogadischu floh. „Es kann passieren, dass die Person, mit der man am Morgen noch gefrühstückt hat, am Nachmittag von Mörsergranaten getötet wird.“

Somalische Flüchtlinge berichteten von unerbittlicher Brutalität und Unterdrückung in den von Al-Shabaab kontrollierten Gebieten (s. entspr. HRW-Bericht). Harte Strafen, insbesondere Auspeitschungen oder summarische Hinrichtungen wie öffentliche Enthauptungen sind weit verbreitet und werden gegen Personen verhängt, die gegen die repressiven Gesetze verstoßen oder des Verrats bezichtigt werden. Al-Shabaab zwangsrekrutiert Kinder und Erwachsene, verwehrt der Bevölkerung in den unter ihrer Herrschaft stehenden Gebieten die dringend benötigte humanitäre Hilfe, einschließlich Nahrungsmittel und Wasser, und hindert die Menschen daran, in sicheren Gebieten Zuflucht zu suchen.

Die TFG hat es weitgehend versäumt, wenigstens in den von ihr kontrollierten Gebieten für ein Mindestmaß an Sicherheit zu sorgen und den Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten (s. entspr. HRW-Bericht). Sie und ihre verbündeten Milizen haben schwere Menschenrechtsverletzungen zu verantworten, darunter umfassende, willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, die Einschränkung der Rede- und Versammlungsfreiheit sowie wahllose Angriffe, deren Leidtragende die Zivilbevölkerung ist.

Die Einmischung externer Akteure hat sich in Somalia oft als kontraproduktiv erwiesen und dazu beigetragen, dass die Sicherheit im Land permanent gefährdet ist. Die USA, die EU und die Vereinten Nationen unterstützen die TFG ohne nachdrücklich darauf zu dringen, dass die politische Führung des Landes die Übergriffe unterbindet. Da das Mandat der TFG in einem Jahr endet, sollen die internationalen Unterstützer dafür sorgen, dass klar definierte Menschenrechtstandards festgelegt werden und auf deren Umsetzung – einschließlich der besseren strafrechtlichen Verfolgung von Verstößen – hinwirken. Falls die Übergangsregierung diese grundlegenden Ziele nicht erreicht, sollen Regierungen und Vereinte Nationen ihre Unterstützung überdenken, so Human Rights Watch.

Die AMISOM hat in den letzten Monaten Maßnahmen ergriffen, um die Zahl ziviler Opfer bei militärischen Operationen zu minimieren. Dennoch gibt es weiterhin schwere Verstöße durch die AMISOM-Truppen und die verantwortlichen Soldaten sind bisher größtenteils nicht zur Rechenschaft gezogen worden.

Äthiopien und Kenia sind beide an dem Konflikt beteiligt und haben 2011 Einheiten ihrer Streitkräfte bei militärischen Operationen in Südsomalia eingesetzt. Darüber hinaus haben sie Milizen, die der TFG nahestehen, militärisch unterstützt. Aber weder Äthiopien noch Kenia haben dafür gesorgt, dass ihre eigenen Truppen oder die von ihnen unterstützten Milizen für die Übergriffe zur Verantwortung gezogen werden.

Human Rights Watch wiederholte die Forderung nach einer UN-Untersuchungskommission, die Verstöße gegen die Menschenrechte oder gegen das Kriegsrecht seitens aller Beteiligten seit Beginn des Konflikts untersuchen und die Grundlage für eine strafrechtliche Verfolgung schaffen soll. Human Rights Watch appellierte an alle Konfliktparteien in Somalia, konkrete Schritte zum Schutz der Zivilbevölkerung zu unternehmen – dabei insbesondere die grundlegenden Maßnahmen zum Schutz von Zivilisten bei Angriffen zu respektieren – und zu gewährleisten, dass der Zugang zu humanitärer Hilfe jederzeit möglich ist.

„Es gibt keine schnelle Lösung für die Tragödie in Somalia. Fest steht jedoch, dass Straffreiheit bei schweren Verstößen die unsichere Lage fortbestehen lässt“, so Bekele. „Daher ist internationaler Druck zur Beendigung der Verstöße seitens aller Beteiligten wichtiger denn je. Mehr Sicherheit und eine bessere Achtung der Rechte würden Somalia weniger anfällig für Gewalt und Hunger machen.“

Die eskalierenden Kämpfe haben zur massiven Vertreibung der Bevölkerung aus Mogadischu und den Grenzregionen geführt. Besonders betroffen ist eine Region entlang der Grenze zu Kenia, die auch „Jubaland“ genannt wird. Die kenianische Regierung gab zu verstehen, diese Region in eine Pufferzone zwischen ihrem Territorium und den von Al-Shabaab kontrollierten Gebieten umwandeln zu wollen. Kenianische Minister riefen die Somalier auf, sich anstatt in Kenia innerhalb dieser Pufferzone helfen zu lassen und behaupteten, das Gebiet sei sicher. Allerdings ist die Region weiterhin höchst unsicher und instabil.

Kenia hat bereits mehrere Hunderttausend somalische Flüchtlinge aufgenommen – eine enorme Last, die in diesem Jahr noch größer geworden ist. Der Krieg und die anhaltende Trockenheit in Somalia haben 2011 Hunderttausende zur Flucht aus ihrer Heimat getrieben, allein mehr als 100.000 Somalier flohen ins benachbarte Kenia.

Die somalischen Flüchtlinge sind dort mit erheblichen Problemen konfrontiert. Es ist überaus gefährlich, zu den Flüchtlingslagern in Dadaab zu gelangen. Die seit 2010 laufenden Untersuchungen von Human Rights Watch ergaben, dass die Flüchtlinge Erpressung und Gewaltanwendung durch die Polizei sowie willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen ausgesetzt sind und unrechtmäßig nach Somalia abgeschoben werden, eine Praxis, die bis ins Jahr 2011 hineinreicht. Flüchtlinge berichteten gegenüber Human Rights Watch, dass sie sich abseits der Hauptrouten durchschlugen, um der kenianischen Polizei aus dem Weg zu gehen. Dort wurden sie jedoch von Banditen ausgeraubt und vergewaltigt.

In den Flüchtlingslagern von Dadaab, die ursprünglich für 90.000 Menschen geplant waren, leben momentan 390.000 registrierte Flüchtlinge (Stand: 24. Juli 2011). Die neu angekommenen somalischen Flüchtlinge sind in den überfüllten Camps mit menschenunwürdigen Zuständen und Verzögerungen bei der Registrierung konfrontiert, um wenigstens ein Minimum an Unterstützung zu erhalten.

Human Rights Watch hat die kenianische Regierung – jetzt mit deutlich mehr Unterstützung der internationalen Geberländer – dringend aufgefordert, eine unverzügliche Umsiedlung der Flüchtlinge in vorhandene, jedoch ungenutzte Camps zu ermöglichen und zusätzliches Land für weitere Lager zur Verfügung zu stellen. Das Erweiterungslager Ifo II steht leer, obwohl es seit November 2010 Platz für 40.000 Flüchtlinge bieten würde. Die Regierung soll Abkommen für zusätzliches Land unterzeichnen, unter anderem im Erweiterungslager Ifo 3 und im Lager Kambios, das 300.000 Flüchtlinge aufnehmen könnte. Human Rights Watch wiederholte außerdem die Forderung an die kenianische Regierung, eine neue Registrierungsstelle für Flüchtlinge in der Grenzstadt Liboi zu eröffnen, wo Neuankömmlinge registriert und dann sicher in die Lager gebracht werden können.

„Wir ermutigen die internationale Gemeinschaft, die Menschen in Somalia sowie die Flüchtlinge in Kenia und Äthiopien zu unterstützen“, so Bekele. „Somalias Nachbarn müssen das Recht all jener respektieren, die aus Somalia fliehen und in den angrenzenden Ländern Zuflucht suchen.“

Ausgewählte Zeugenaussagen aus dem Bericht „You Don’t Know Who to Blame“

Eine 37-jährige Frau aus Mogadischu, die vor der wahllosen Bombardierung floh:

Die Bevölkerung wird von keiner Seite verschont. Es kann passieren, dass die Person, mit der man am Morgen noch gefrühstückt hat, am Nachmittag von Mörsergranaten getötet wird. Al-Shabaab schießt gerne aus Wohngebieten heraus, wohl wissend, dass die andere Seite genau dorthin zurückschießen wird. Dann ziehen sie ab. Der TFG und AMISOM ist es egal, ob es an den Orten, die sie unter Beschuss nehmen, Zivilisten gibt oder nicht. Man weiß nicht mehr, wem man die Schuld geben soll: Al-Shabaab, weil sie sich inmitten der Bevölkerung verstecken oder der Regierung, weil sie genau dort zurückschlägt, von wo sie beschossen wurde?

Eine 40 Jahre alte Frau aus Mogadischu, deren Ehemann von Al-Shabaab inhaftiert wurde:

Sie riefen mich an und sagten: „Wir haben deinen Mann. Er ist auch ein Ungläubiger, oder?“ Ich antwortete: „Mein Mann ist Muslim.“ Sie wiederholten: „Er ist ein Ungläubiger und wir werden ihn abschlachten.“ Zwei Tage nach seiner Festnahme riefen sie mich noch einmal an. Sie sagten, wir seien Ungläubige, unsere Kinder seien Ungläubige, und dass wir uns in Acht nehmen sollten ... Ich habe ihre Drohungen noch deutlich im Ohr.

Ein junger Mann aus Sakoh, der aus einem von Al-Shabaab kontrollierten Gebiet floh:

Sämtliche Tiere sind verendet. Es gibt keine Kamele mehr, keine Ziegen, keine Rinder, selbst die Menschen fingen an zu sterben. Es gab nichts zu essen, weil Al-Shabaab Nahrungsmittellieferungen von Hilfsorganisationen nicht zuließ. Sie sagen: „Wir wollen das Essen der Ungläubigen nicht.“

Eine ältere Frau aus Dhobley, die auf dem Weg nach Dadaab angegriffen wurde:

Vor drei Tagen bin ich [mit einem Kleinbus] in Dhobley aufgebrochen. Unterwegs wurden wir ausgeraubt, wir waren ungefähr zu vierzigst. Zehn Männer kamen mit Gewehren auf uns zu und hielten sie uns ins Genick, zehn weitere Männer befanden sich im Busch. Männer und Frauen wurden voneinander getrennt. Wir mussten ihnen unsere Mobiltelefone geben, Geld, alles was wir besaßen. Einige Mädchen wurden vergewaltigt, ungefähr sechs. Mir hielten sie nur ein Gewehr ins Genick, nahmen mein Geld und mein Telefon. Weil ich alt bin, wurde ich nicht vergewaltigt.

Ein Mann mittleren Alters, der willkürlich von den mit der TFG verbündeten Milizen Ahlu Sunna Waj-Jama’a festgenommen wurde:

Ich wurde von Milizen der [Ahlu Sunna Wal Jama’a] festgenommen. Ich saß im Stadtzentrum von BulaHawo, als es eine Explosion gab. Ein Fahrzeug der Übergangsregierung wurde von einer Mine zerstört. Im nächsten Moment tauchten auch schon die Soldaten [der Ahlu Sunna Wal Jama’a] auf und schossen um sich. Wir wurden alle zusammengetrieben und zum Polizeirevier gebracht. Als mich die Soldaten in die Zelle brachten, stahlen sie mein Mobiltelefon und 7.000 Ksh.

Sie nahmen 500 Personen fest. Wir wurden in einem Compound untergebracht, manche in Zellen. Auch Frauen wurden verhaftet und getrennt untergebracht. Manche von ihnen hatte kleine Kindere dabei. Frauen und Kinder wurden noch am gleichen Tag auf freien Fuß gesetzt, die Männer blieben zwei Tage in Haft.

Als man uns wieder freiließ, gab es eine öffentliche Versammlung der TFG. Sie meinten, wir sollten entweder nach Kenia oder nach Äthiopien gehen oder uns der Al-Shabaab anschließen. [Ein Bezirksvertreter] sagte: „Falls hier noch einmal etwas passiert, werden wir euch zur Verantwortung ziehen und töten.“ Am Tag nach der Versammlung war uns klar, dass ein Leben dort nicht mehr möglich sein würde. Wir entschieden uns zu gehen.

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