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(London, 19. Oktober 2010) - Die äthiopische Regierung nutzt Entwicklungshilfe zur Unterdrückung der Opposition, indem sie den Zugang zu grundlegenden staatlichen Leistungen von der Unterstützung der Regierungspartei abhängig macht, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Human Rights Watch fordert die internationalen Geber auf, einen verantwortungsvollen und transparenten Umgang mit den Mitteln sicherzustellen. Zudem soll überprüft werden, dass die Hilfe nicht als politisches Druckmittel eingesetzt wird.

Der 105-seitige Bericht „Development Without Freedom: How Aid Underwrites Repression in Ethiopia“ dokumentiert, wie die äthiopische Regierung Spenden und Hilfsgüter instrumentalisiert, um die Vormachtstellung der regierenden Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) zu sichern.

„Wie selbstverständlich benutzt die äthiopische Regierung den Zugang zu Hilfsleistungen als Waffe, um Menschen zu beeinflussen und oppositionelle Gedanken zu bekämpfen“, so Rona Peligal, Leiterin der Afrika-Abteilung von Human Rights Watch. „Wer sich nicht an die Regeln der Regierungspartei hält, verliert seinen Anspruch auf Unterstützung. Und doch belohnen internationale Geber dieses Verhalten mit immer höheren Summen an Entwicklungshilfe.“

Äthiopien gehört zu den weltweit größten Empfängern von Entwicklungshilfe; allein im Jahr 2008 erhielt das Land mehr als drei Milliarden US-Dollar. Die Bezirksregierungen erhalten direkte Unterstützung von den Geberländern und der Weltbank, um grundlegende staatliche Leistungen in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft und Wasserversorgung sowie ein Food-for-Work-Programm für den ärmsten Teil der Bevölkerung zu gewährleisten. Die wichtigsten bilateralen Geber sind die Europäische Union, die USA, Großbritannien und Deutschland.

Beamte auf lokaler Ebene verweigern Oppositionellen und Bürgerrechtlern routinemäßig staatliche Hilfen, selbst wenn sie in ländlichen Gebieten leben und dringend Lebensmittel benötigen. Um Schulkinder mit der Ideologie der Regierungspartei zu indoktrinieren, Lehrer einzuschüchtern und den Staatsdienst von Menschen mit unabhängigen politischen Ansichten zu säubern, missbraucht die Regierung Capacity Building-Programme, die durch Gelder aus dem Ausland finanziert werden und für die Entwicklung des Landes förderliche Handlungskompetenz vermitteln sollen.

Die Unterdrückung der Opposition war im Vorfeld der Parlamentswahlen im Mai 2010, bei der die Regierungspartei schließlich 99,6 Prozent der Sitze erreichte, besonders deutlich geworden.

Trotz staatlicher Restriktionen, die unabhängige Recherchen erschweren, befragte Human Rights Watch in einer sechsmonatigen Untersuchung mehr als 200 Menschen in 53 Dörfer in drei Regionen. Human Rights Watch stieß dabei auf Probleme, die offenbar flächendeckend sind.

Bauern erklärten, man habe ihnen den Zugang zu landwirtschaftlicher Hilfe, Mikrokrediten, Saatgut und Dünger verweigert, weil sie die Regierungspartei nicht unterstützt hatten. Ein Bauer aus der Region Amhara sagte im Gespräch mit Human Rights Watch: „Ortsvorsteher haben öffentlich erklärt, sie würden herausfinden, wer zur Opposition gehöre und ihnen anschließend ‚Privilegien‘ entziehen. Damit meinten sie den Zugang zu Dünger, dem Safety Net-Programm und sogar zu Nothilfe.“

Viele Dorfbewohner gaben an, den Familien von Oppositionsmitgliedern sei die Teilnahme am Safety Net-Programm verweigert worden, einem Food for Work-Programm, dass sieben Millionen der ärmsten Menschen in Äthiopien unterstützt. Zahlreiche Oppositionelle aus allen Landesteilen, denen die Lokalbehörden staatliche Leistungen verweigert hatten, berichteten, Vertreter der Regierungspartei und Regierungsbeamte hätten ihre Beschwerden zurückgewiesen und ihnen empfohlen: „Fragen Sie Ihre eigene Partei um Hilfe!“

Human Rights Watch dokumentierte zudem, wie Schüler, Lehrer und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst im Rahmen eines von ausländischen Regierungen finanzierten Capacity Building-Programms an Veranstaltungen teilnehmen mussten, bei denen ihnen die Ideologie der Regierungspartei vermittelt werden sollte. Teilnehmer dieser Sitzungen berichteten, Menschen, die der Partei nicht beitreten wollten, seien eingeschüchtert und bedroht worden. Lehrer wurden von ihren Vorgesetzten informiert, dass die Parteimitgliedschaft Voraussetzung für Beförderungen und Fortbildungsangebote sei. Der Bildungssektor, insbesondere Schulen und Lehrerfortbildungen, wird ebenfalls durch große Summen von Entwicklungshilfegeldern getragen.

„Die EPRDF hat die Kontrolle über sämtliche Hilfsprogramme, weil sie die Regierung auf allen Ebenen beherrscht“, so Peligal. „Ohne eine wirksame, unabhängige Kontrolle wird die internationale Hilfe auch weiter für den Machterhalt eines repressiven Einparteienstaats missbraucht werden.“

Als Reaktion auf die Niederschlagung von Unruhen nach den Parlamentswahlen im Jahr 2005, bei der über 200 Menschen getötet und etwa 30.000 Demonstranten, darunter Dutzende Oppositionspolitiker, verhaftet worden waren, setzten die Weltbank und andere Geber alle direkten Finanzhilfen an die äthiopische Regierung aus. Die Geber äußerten damals die Sorge, Spendengelder könnten „politisch vereinnahmt“ werden.

Die Hilfe wurde jedoch schon bald im Rahmen eines neuen Programms zur „Sicherung grundlegender Leistungen“ wieder aufgenommen, das Gelder direkt an die Bezirksregierungen vergab. Die Bezirksregierungen stehen wie die Zentralregierung unter der Kontrolle der EPRDF, sind jedoch zudem schwieriger zu überwachen und noch unmittelbarer an der tagtäglichen Unterdrückung der Bevölkerung beteiligt.

Seit 2005 hat die äthiopische Regierung politische Freiräume immer weiter eingeschränkt, unabhängige Journalisten und Bürgerrechtsaktivisten zum Schweigen oder zur Ausreise gezwungen und die Versammlungs- und Meinungsfreiheit missachtet. Ein im vergangenen Jahr verabschiedetes Gesetz über zivilgesellschaftliche Aktivitäten verbietet Nichtregierungsorganisationen, die mehr als 10 Prozent ihres Budgets aus dem Ausland erhalten, zu Themen wie Menschenrechten, guter Regierungsführung und Konfliktbewältigung zu arbeiten.

„Die wenigen unabhängigen Organisationen, die die Achtung der Menschenrechte überwacht haben, sind durch das repressive Vorgehen der Regierung und ihr neues Gesetz über zivilgesellschaftliche Aktivitäten in die Bedeutungslosigkeit verbannt worden“, so Peligal. „Gerade diese Organisationen werden jedoch dringend gebraucht, um den Missbrauch von Hilfsgeldern zu verhindern.“

Während sich die Menschenrechtslage in Äthiopien verschlechtert hat, haben die Geberländer ihre Hilfe deutlich aufgestockt. Das Volumen der internationalen Entwicklungshilfe für Äthiopien hat sich zwischen 2004 und 2008 verdoppelt. Laut Angaben der äthiopischen Regierung macht das Land große Fortschritte bei der Armutsbekämpfung, und wird von seinen Gebern bereitwillig bei der Umsetzung der Millenniumsziele der Vereinten Nationen unterstützt. Doch der Preis für diese Fortschritte ist hoch.

Mit den Erkenntnissen von Human Rights Watch konfrontiert räumten viele Vertreter der Geber inoffiziell ein, dass sich die Menschenrechtslage in Äthiopien verschlechtert und sich die Regierung immer autoritärer verhält. Vertreter von einem Dutzend westlicher Geberländer erklärten gegenüber Human Rights Watch, die Vorwürfe, wonach spendenfinanzierte Programme zur politischen Unterdrückung missbraucht werden, seien ihnen bekannt, sie hätten jedoch keine Möglichkeit, das Ausmaß des Missbrauchs festzustellen. In Äthiopien erfolgt die Kontrolle von Spendenprogrammen größtenteils in Zusammenarbeit mit Regierungsbeamten.

Nur wenige Geber waren bereit, ihre Bedenken über den mutmaßlichen Missbrauch ihrer steuerfinanzierten Entwicklungshilfe öffentlich zu äußern. Nach Prüfung bestehender Informationen erklärte der OECD-Ausschuss für Entwicklungshilfe, der die Entwicklungshilfe zahlreicher Geberländer koordiniert, dass seine Programme gut funktionierten und nicht „verfälscht“ würden. Bisher hat jedoch kein Geberland eine glaubwürdige unabhängige Untersuchung des Spendenmissbrauchs in Äthiopien durchgeführt.

Human Rights Watch appellierte an die Gesetzgeber und Kontrollorgane in den Geberländern, die Entwicklungshilfe für Äthiopien genau unter die Lupe zu nehmen und dafür zu sorgen, dass sie nicht zur Unterdrückung der Opposition missbraucht werden.

„In ihrem Eifer, Fortschritte in Äthiopien zu vermelden, verschließen Vertreter der Geber die Augen vor der Unterdrückung, die sich hinter den Statistiken verbirgt“, so Peligal. „Geberländer, die den äthiopischen Staat finanzieren, müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass ein Teil ihrer Hilfen zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt.“

Hintergrund
Die regierende EPRDF, ein Bündnis ethnischer Gruppen unter der Führung der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), gelangte 1991 nach dem Sturz der Militärregierung von Mengistu Haile Mariam an die Macht. Die Regierung verabschiedete 1994 eine neue Verfassung, die grundlegende Menschenrechtsstandards festschreibt, schränkte diese Rechte jedoch in den bisher 19 Jahren ihrer Regierungsführung immer weiter ein.

Obwohl die Regierungspartei schon kurz nach ihrer Machtübernahme 1991 ein Mehrparteiensystem einführte, begegnen Oppositionsparteien schweren Behinderungen bei der Einrichtung von Büros, der Organisation ihrer Mitglieder und der Durchführung regionaler und nationaler Wahlkämpfe.

85 Prozent der äthiopischen Bevölkerung leben im ländlichen Raum und 10 bis 20 Prozent sind auf Nahrungsmittelspenden aus dem Ausland angewiesen. Die ausländische Entwicklungshilfe für Äthiopien ist seit den 1990er Jahren stetig gestiegen und erreichte während des zweijährigen Grenzkonflikts mit Eritrea (1998-2000) einen zwischenzeitlichen Höchststand. Äthiopien ist heute das wichtigste Empfängerland in Afrika von Geldern der Weltbank und von internationaler Hilfe.

Im Jahr 2008 betrug das Gesamtvolumen der Hilfsleistungen an Äthiopien 3,3 Milliarden US-Dollar. Davon stammten 800 Millionen aus den USA, 400 Millionen von der Europäischen Union und 300 Millionen aus Großbritannien. Dem Land werden im Allgemeinen gute Fortschritte bei der Umsetzung der Millenniumsziele der Vereinten Nationen bescheinigt. Viele der Zahlen, die dieser Einschätzung zugrunde liegen, stammen jedoch von der äthiopischen Regierung selbst und sind nicht von unabhängiger Seite überprüft worden.

Aussagen aus dem Bericht

„Es gibt Mikrokredite, die jeder aufnehmen kann, aber es ist sehr schwierig für uns Oppositionsmitglieder. Sie sagen: ‚Das hier kommt nicht von eurer Regierung, es stammt von der Regierung, die ihr hasst. Warum erwartet ihr etwas von der Regierung, die ihr hasst?‘“

- Bauer aus dem Süden Äthiopiens

„Gestern sagte der Ortsvorsteher zu mir: ‚Du hast so viele Probleme, warum schreibst du nicht ein Entschuldigungsschreiben und trittst der Regierungspartei bei?‘“

- ein Bauer mit einem unterernährten Kind, dem die Teilnahme an einem Food for Work-Programm verweigert wurde

„Das Safety Net-Programm wird benutzt, um die Loyalität gegenüber der Regierungspartei zu erkaufen. Das ist Geld aus dem Ausland. Die Demokratie wird durch Geld untergraben, das aus dem Ausland kommt. Wissen die Leute, die das Geld schicken, wofür es verwendet wird? Sagen Sie ihnen, dass es gegen die Demokratie eingesetzt wird.“

- Bauer aus der Region Amhara

„Es ist klar, dass unser Geld in die politische Gehirnwäsche fließt.“

- Berater eines wichtigen Geberlands, Addis Abeba

„Es gibt überall Einschüchterung, auf allen Gebieten. Der Wohnungsmarkt, das Gewerbe, die Bildung, die Landwirtschaft sind politisiert. Viele der Leute, die überredet oder gezwungen werden, der Partei beizutreten, wegen dem Safety Net-Programm und so weiter, viele haben keine Wahl, es wird gegen ihren Willen durchgesetzt.“

- für Entwicklungshilfe zuständiger Beamter, Addis Abeba

„Jedes Mittel, das ihnen zur Verfügung steht - Dünger, Kredite, das Safety Net-Programm - , wird benutzt, um die Opposition zu bekämpfen. Wir wissen das.“

- Leitender westlicher Entwicklungshilfe-Beamter, Addis Abeba

„Welchen Staat bauen wir auf und wie tun wir es? Es ist gut möglich, dass wir die Fähigkeit des Staates zu überwachen und zu unterdrücken aufbauen.“

- Weltbank-Mitarbeiter, Addis Abeba

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