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A Ukrainian soldier stands in front of the graves of Ukrainian soldiers killed in the war at a cemetery in Kharkiv.  © 2024 David Young/picture-alliance/dpa/AP Images

(Kiew, 2. Mai 2024) - Russische Streitkräfte haben offenbar seit Anfang Dezember 2023 mindestens 15 ukrainische Soldaten hingerichtet, die im Begriff waren, sich zu ergeben sowie möglicherweise sechs weitere, die sich ebenfalls ergeben wollten oder sich bereits ergeben hatten, so Human Rights Watch heute. Diese Vorfälle sollten als Kriegsverbrechen untersucht werden.

„Seit ihrer groß angelegten Invasion der Ukraine haben die russischen Streitkräfte zahlreiche schreckliche Kriegsverbrechen begangen“, sagte Belkis Wille, stellvertretende Direktorin für Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Die summarische Hinrichtung - oder Ermordung - kapitulierender und verletzter ukrainischer Soldaten, die kaltblütig niedergeschossen wurden, was nach dem humanitären Völkerrecht ausdrücklich verboten ist, gehört zu diesen schändlichen Taten.“

Human Rights Watch untersuchte drei Fälle von mutmaßlichen summarischen Hinrichtungen von insgesamt mindestens 12 ukrainischen Soldaten. Hierfür prüfte und analysierte Human Rights Watch Drohnenaufnahmen, die am 2. und 27. Dezember 2023 sowie am 25. Februar 2024 in sozialen Medien veröffentlicht wurden. In diesen Fällen ist eindeutig zu erkennen, dass die betroffenen Soldaten sich ergeben wollten. Da sie nicht mehr an Kampfhandlungen teilnahmen, galten sie als „hors de combat“ und hätten nach dem humanitären Völkerrecht bzw. dem Kriegsrecht nicht mehr angegriffen werden dürfen.

Human Rights Watch konnte den Ort zweier der drei Vorfälle anhand des Videomaterials verifizieren. Der Ort des dritten Vorfalls konnte aufgrund fehlender geografischer Details in den Videos nicht bestimmt werden. Human Rights Watch konnte nicht feststellen, wer die Drohne betrieben hat, mittels derer das Videomaterial in diesen Fällen aufgenommen wurde.

Human Rights Watch untersuchte auch einen vierten Fall. Hierzu wurde ein weiterer Videoclip analysiert, der am 19. Februar in den sozialen Medien veröffentlicht wurde und zwei russische Soldaten zeigt, die drei sich ergebende und unbewaffnete ukrainische Soldaten hinrichten. Obwohl in dem entsprechenden Beitrag in den sozialen Medien auch der Ort angegeben ist, an dem sich der Vorfall mutmaßlich ereignete, konnte Human Rights Watch diesen nicht unabhängig verifizieren.

Beim fünften Vorfall stützte sich die Untersuchung auf ein Interview mit einem ukrainischen Soldaten, ein am 16. Februar auf einem Telegram-Kanal veröffentlichtes Video und eine ausführliche Medienberichterstattung, die auch Interviews mit Familienangehörigen eines der Opfer enthielt. Alle Informationen deuten darauf hin, dass bei dem Vorfall sechs Soldaten hingerichtet wurden, wobei die genauen Umstände unklar sind.

Bei einem der fünf Vorfälle am 25. Februar zeigen verifizierte Drohnenaufnahmen, die im Internet, auch auf X (ehemals Twitter), verbreitet wurden, mindestens sieben ukrainische Soldaten, die einen Unterstand zwischen Bäumen zwischen zwei Feldern verlassen, ihre Schutzwesten ablegen, wobei mindestens ein Soldat seinen Helm abnimmt, und alle mit dem Gesicht nach unten liegen, während fünf russische Soldaten mit ihren Gewehren auf sie zielen. Die russischen Soldaten sind an den markanten roten Bändern an Armen und Beinen zu erkennen. Drei russische Soldaten schießen dann von hinten und von beiden Seiten auf die offensichtlich kapitulierenden ukrainischen Soldaten.

Sechs von ihnen bleiben mit dem Gesicht nach unten liegen und reagieren sichtlich auf die Schüsse, während einer versucht, in den Unterstand zurückzukehren, aber vorher erschossen wird. Der Vorfall ereignete sich in der Nähe des Dorfes Ivanivske in der Region Donetska. Der Ort des Geschehens wurde zunächst von EjShahid, einem Freiwilligen von GeoConfirmed, verifiziert und anschließend von Researcher*innen von Human Rights Watch bestätigt.

A still frame extracted from drone footage filmed near Ivanivske village in the Donetska region of Ukraine moments before Russian soldiers shoot at seven surrendering Ukrainian soldiers at close range. © GloOouD, X (formerly known as Twitter), 2024.

Bei den mutmaßlichen Hinrichtungen scheint es sich nicht um Einzelfälle zu handeln. Human Rights Watch identifizierte auch russische Drohnenaufnahmen, die am 5. Februar 2024 veröffentlicht wurden und einen anderen Moment auf dem Schlachtfeld zeigen. Bei diesem Vorfall konnte Human Rights Watch nicht feststellen, ob sich die ukrainischen Soldaten ergeben haben, aber eine männliche Stimme, die in dem Clip zu hören ist und die authentisch wirkt, gibt offenbar russischen Soldaten auf dem Schlachtfeld in der Region Donezk Befehle. Die Stimme sagt auf Russisch: „Nehmt keine Gefangenen, erschießt alle“. Die audiovisuelle Analyse des Materials lässt darauf schließen, dass es sich um eine russische Drohne handelt.

Ein im März 2023 von der UN-Beobachterkommission in der Ukraine veröffentlichter Bericht dokumentiert die Hinrichtungen von 15 ukrainischen Kriegsgefangenen durch russische Streitkräfte und die Wagner-Gruppe im ersten Jahr des Angriffskriegs. In ihrem regelmäßigen Bericht von Februar bis Juli 2023 dokumentierten die Vereinten Nationen die summarische Hinrichtung von sechs ukrainischen Kriegsgefangenen. Ein im März 2024 veröffentlichter Folgebericht, der sich auf die drei vorangegangenen Monate bezog, stellte 12 gemeldete Hinrichtungen von mindestens 32 gefangenen Kriegsgefangenen oder „hors de combat“ Personen fest. Die Vereinten Nationen haben drei der letztgenannten Vorfälle, an denen sieben ukrainische Soldaten beteiligt waren, unabhängig überprüft.

Am 9. April teilte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft mit, dass sie in 27 Fällen strafrechtliche Ermittlungen wegen der Hinrichtung von insgesamt 54 ukrainischen Kriegsgefangenen durchführe. Die Generalstaatsanwaltschaft teilte Human Rights Watch zudem mit, sie könne keine weiteren Informationen über diese Fälle weitergeben, verwies aber auf drei Verdachtsanzeigen gegen russische Soldaten wegen außergerichtlicher Hinrichtungen, von denen eine zu einem Gerichtsurteil in Abwesenheit führte. In einem kürzlich veröffentlichten Statement verwies die Staatsanwaltschaft auf einen vierten Fall. Die UN-Beobachtermission in der Ukraine hat Fälle dokumentiert, in denen russische Soldaten misshandelt wurden, die im Rahmen der großangelegten russischen Invasion von ukrainischen Streitkräften gefangen genommen worden waren.

Am 22. April schrieb Human Rights Watch einen Brief an den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und bat um nähere Angaben zu den oben beschriebenen Vorfällen sowie zu etwaigen Befehlen an russische Streitkräfte, ukrainische Soldaten zu töten, die im Begriff waren, sich zu ergeben, anstatt sie gefangen zu nehmen. Bislang erhielt Human Rights Watch keine Antwort auf das Schreiben.

Das humanitäre Völkerrecht bzw. das Kriegsrecht verpflichtet die an einem internationalen bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien, Streitkräfte, die sich „hors de combat“ befinden, sowie in Gewahrsam befindliche Personen, die zu Kriegsgefangenen werden, unter allen Umständen human zu behandeln. Es ist ein Kriegsverbrechen, entsprechende Personen vorsätzlich zu töten, zu misshandeln oder zu foltern. Der Befehl, Kriegsgefangene zu töten oder sich ergebende Soldaten zu exekutieren, anstatt sie gefangen zu nehmen, ist nach dem humanitären Völkerrecht streng verboten. Solche Befehle verstoßen gegen die Verpflichtungen Russlands gemäß dem humanitären Völkerrecht bzw. dem Kriegsrecht und auch gemäß den russischen militärischen Statuten. Sowohl die Erteilung eines entsprechenden Befehls als auch seine Ausführung stellen Kriegsverbrechen dar.

Russland ist nicht nur an das humanitäre Völkerrecht gebunden, es ist auch Vertragspartei des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR), der außergerichtliche Tötungen strikt untersagt.

Zudem ist Russland nach dem humanitären Völkerrecht verpflichtet, mutmaßliche Kriegsverbrechen, die von seinen Streitkräften oder in dem von ihm kontrollierten Gebiet begangen werden, zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen. Die umfangreiche Dokumentation von Human Rights Watch zu Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht in Tschetschenien, Georgien, Syrien und der Ukraine über einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten zeigt jedoch deutlich, dass Russland nicht bereit ist, Kriegsverbrechen und andere Verstöße gegen das Völkerrecht durch die eigenen Streitkräfte zu verfolgen.

„Jeder dieser Fälle ist erschütternd, aber das wohl belastendste ist das Beweismaterial, das in mindestens einem Fall darauf hinweist, dass die russischen Streitkräfte den ausdrücklichen Befehl gaben, Soldaten zu töten, die sich ergeben wollten. Damit haben sie Kriegsverbrechen begangen“, sagte Wille.

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