Background Briefing

Grossbritannien

Omar Mohammed Othman (auch als Abu Qatada bekannt)

Der Fall Abu Qatada ist die erste rechtliche Anfechtung der britischen Politik, mutmaßliche Terroristen basierend auf „Absichtserklärungen“ an Länder auszuliefern, in denen ihnen Folter droht. Diese Erklärungen, bei denen es sich praktisch um diplomatische Zusicherungen handelt, enthalten Versprechen des Empfängerstaats, zurückgeführte Personen weder zu foltern noch anderweitig zu misshandeln. Zusätzlich gewährleisten sie, dass nach der Rückkehr ein Überprüfungsmechanismus zum Tragen kommt, der als zusätzliche Schutzmaßnahme gelten soll. Großbritannien hat derartige Vereinbarungen mit Jordanien, Libyen und dem Libanon abgeschlossen.41

Die britische Regierung möchte Abu Qatada, einen mutmaßlichen Terroristen mit jordanischer Staatsbürgerschaft, basierend auf einer Absichtserklärung, die im August 2005 zwischen Großbritannien und Jordanien abgeschlossen wurde, in sein Heimatland abschieben. Abu Qatada lebt seit 1993 in Großbritannien und erhielt im Juni 1994 den Flüchtlingsstatus. Vor dem jordanischen Staatssicherheitsgericht wurde er 2000 aufgrund seiner angeblichen Beteiligung an einem Bombenanschlag in absentia zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Nach den Ereignissen vom 11. September 2001 verabschiedete Großbritannien ein Anti-Terrorismus-Gesetz, wonach mutmaßliche Terroristen aus dem Ausland, denen bei ihrer Rückkehr Folter droht und die daher nicht abgeschoben werden konnten, auf unbeschränkte Zeit ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert werden können. Abu Qatada war gemäß diesem Gesetz zwischen 2002 und März 2005 in Belmarsh inhaftiert. Nach der im Dezember 2004 von der Rechtskommission des Oberhauses getroffenen Entscheidung, dass auf unbegrenzte Zeit erfolgte Inhaftierungen rechtswidrig sind,42 wurde Qatada freigelassen. Es wurde jedoch eine „Überwachungsanweisung“ erteilt, wonach sein Wohnort bestimmt, seine Bewegungsfreiheit kontrolliert und die Besuche seiner Verwandten und Freunde sowie die Nutzung von Telefonen und Computern eingeschränkt wurde.43 Im August 2005 wurde Qatada erneut festgenommen, um nach Jordanien abgeschoben zu werden. Die britische Regierung argumentiert, dass die Abschiebung Qatadas nach Jordanien durch die Absichtserklärung möglich und so auch seine Inhaftierung durch die Immigrationsbehörden mit dem Recht auf Freiheit nach Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sei.44

Im Mai 2006 focht Qatada seine bevorstehende Auslieferung und die Verlässlichkeit der Zusicherungen Jordaniens gegen Folter vor dem SIAC, einer Sonderkommission für Einwanderungspetitionen, an. In dieser Kommission werden Berufungsverfahren für Fälle behandelt, in denen der Innenminister rechtliche Befugnisse ausübt, um Personen aus Gründen der nationalen Sicherheit oder des Allgemeinwohls ausliefern oder den Aufenthalt in Großbritannien verbieten zu lassen. Qatada argumentierte, dass die tatsächliche Foltergefahr bei seiner Rückkehr nach Jordanien durch die Zusicherungen Jordaniens nicht geringer ausfällt. Human Rights Watch reichte eine Expertenaussage ein, wonach die diplomatischen Zusicherungen, die in der zwischen Großbritannien und Jordanien abgeschlossenen Absichterklärung enthalten sind, keinen wirkungsvollen Schutz gegen Folter bieten.45 Eine Entscheidung soll Anfang 2007 getroffen werden.46



41 „UK: Torture a Risk in Libya Deportation Accord: International Law Prohibits Deporting Individuals to Countries that Practice Torture“ (Englisch), Human Rights Watch-Nachrichten, 18. Oktober 2005, http://hrw.org/english/docs/2005/10/18/libya11890.htm; „UK/Jordan: Torture Risk Makes Deportations Illegal: Agreement Bad Model for Region“ (Englisch), Human Rights Watch-Nachrichten, 16. August 2005, http://hrw.org/english/docs/2005/08/16/jordan11628.htm; Schreiben von Human Rights Watch und Liberty an Premierminister Tony Blair, „Empty Promises Can't Protect People from Torture“ (Englisch), 23. Juni 2005, http://hrw.org/english/docs/2005/06/23/uk11219.htm.

42 „UK: Law Lords Rule Indefinite Detention Breaches Human Rights“ (Englisch), Human Rights Watch-Nachrichten, 16. Dezember 2004, http://hrw.org/english/docs/2004/12/16/uk9890.htm.

43 Im März 2005 trat das Anti-Terror-Gesetz 2005 (Prevention of Terrorism Act; PTA) in Kraft. Als direkte Antwort auf das Urteil, wonach eine auf unbeschränkte Zeit verhängte Haftstrafe als rechtswidrig gilt, hat der Innenminister auf der Grundlage des PTA das Recht, für Terrorverdächtige „Überwachungsanweisungen“ zu verhängen. Dadurch wird die Freiheit von Personen zum „Schutz der Öffentlichkeit vor der Gefahr des Terrorismus“ eingeschränkt. Siehe auch Human Rights Watch-Kommentar zur Gesetzesvorlage zur Terrorismusvermeidung 2005 (Prevention of Terrorism Bill), 1. März 2005, http://hrw.org/backgrounder/eca/uk0305/index.htm (Englisch).

44 Artikel 5 der Europäische Menschenrechtskonvention lautet folgendermaßen: Jeder Mensch hat ein Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf einem Menschen nur in den folgenden Fällen und nur auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Wege entzogen werden: ... (f) wenn er rechtmäßig festgenommen worden ist oder in Haft gehalten wird, weil er daran gehindert werden soll, unberechtigt in das Staatsgebiet einzudringen oder weil er von einem gegen ihn schwebenden Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren betroffen ist.

45 Großbritannien: Human Rights Watch-Aussage im Fall Omar Othman (Abu Qatada), Mai 2006, http://www.hrw.org/backgrounder/eca/ecaqna1106/witnessstatementjuliahall.pdf (Englisch).

46 Eine rechtliche Anfechtung der zwischen Großbritannien und Libyen vereinbarten Absichtserklärung wurde im Oktober 2006 in der Kommission SIAC eingeleitet.