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Italien: Abschiebung würde Tunesier Foltergefahr aussetzen

Tunesiens Versprechen über menschenwürdige Behandlung nicht glaubwürdig

Die italienische Regierung soll einen als Gefahr für die nationale Sicherheit eingestuften Mann nicht nach Tunesien zurückschicken. Dort ist er der Gefahr der Folter und Misshandlung ausgesetzt, trotz der unzuverlässigen Zusicherungen einer menschenwürdigen Behandlung durch die tunesische Regierung, erklärte Human Rights Watch heute in einem Brief an die italienische Regierung.

Nassim Saadi, ein in Italien ansässiger Tunesier, war im Mai 2005 vom Vorwurf des Terrorismus freigesprochen worden. Der italienische Innenminister Giuliano Amato legte jedoch im August 2006 fest, dass er mittels besonderer Bestimmungen für Terrorismus-Fälle in einem beschleunigten Verfahren abgeschoben werden soll. Dabei wird den Verdächtigen das Recht verweigert, während ihres Berufungsverfahrens gegen die Abschiebung in Italien zu bleiben. Dieses Eilverfahren ist vom UN-Komitee gegen Folter kritisiert worden, da es keinen „effektiven Schutz“ vor Folter in dem Zielland gewährleistet.

„Tunesiens Zusicherungen über menschliche Behandlung werden Nassim Saadi nicht vor Folter schützen, und die italienische Regierung weiß das“, sagte Julia Hall, Senior-Researcherin für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Anstatt Leute zurückzuschicken und sie damit dem Risiko von Menschenrechtsverletzungen auszusetzen, sollte Rom Druck auf Tunis ausüben, damit Gefangene dort nicht weiter misshandelt werden.“

Saadi legte beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Berufung ein und gab an, im Fall einer Ausweisung nach Tunesien mit Folter rechnen zu müssen. Im Oktober 2006 forderte der Europäische Gerichtshof Italien auf, die Abschiebung auszusetzen, bis spätestens Ende des Jahres ein endgültiges Urteil gefällt wird. Die italienische Regierung argumentierte im Juli 2007 vor Gericht, dass die Zusicherungen der tunesischen Regierung, Saadi menschenwürdig zu behandeln, das Risiko der Misshandlung verringern würden.

„Tunesien hat eine lange Geschichte der Folter und Misshandlung von Gefangenen und hat in der Vergangenheit derartige Zusicherungen bereits gebrochen“, sagte Hall.
„Die Beteuerungen aus Tunis sind leere Versprechen, gegeben und angenommen in dem vergeblichen Versuch, eine illegale Abschiebung zu rechtfertigen.“

Der kürzlich erschienene Human Rights Watch-Bericht „Ill-Fated Homecomings: A Tunisian Case Study of Guantanamo Repatriations“ (vgl. https://www.hrw.org/reports/2007/tunisia0907/) dokumentiert, wie die tunesischen Behörden im Juni zwei in die Heimat zurückgeführte ehemalige Guantanamo-Häftlinge misshandelt haben, entgegen den Zusicherungen Tunesiens gegenüber den USA, menschenwürdig mit ihnen umzugehen. Beide Männer sind derzeit in einem tunesischen Gefängnis inhaftiert und haben Besuchern erzählt, sie würden so schlecht behandelt, dass sie lieber wieder in Guantanamo wären.

Die von Romano Prodis Regierung im Fall Saadi eingeleiteten Maßnahmen scheinen der Strategie der vorhergehenden Regierung entgegengesetzt zu sein, die „diplomatische Zusicherungen“ gegen Folter abgelehnt hat. In Stellungnahmen vom Dezember 2005 und März 2006 hatte ein italienischer Abgeordneter im Europarat den Gebrauch „diplomatischer Zusicherungen“ gegen Folter und Misshandlung lautstark und standhaft zurückgewiesen. Italien trat außerdem einer Gruppe von Ländern im Europarat bei, die in Übereinstimmung mit einer Koalition von Nichtregierungsorganisationen (einschließlich Human Rights Watch) argumentierten, dass „diplomatische Zusicherungen“ gegen Folter und Misshandlung das wahre Risiko des Missbrauchs nicht reduzieren oder beseitigen würden.

„Leute zurückzuschicken und sie dadurch Misshandlungen auszusetzen, untergräbt fundamentale europäische Werte“, sagte Hall. Italien sollte sich auf keinerlei Versprechungen über menschliche Behandlung von Regierungen verlassen, die routinemäßig Menschen misshandeln, die als mögliche Gefahr für die nationale Sicherheit gelten. Solche Zusicherungen sind lediglich ein Feigenblatt für Misshandlung.

Hintergrund

Ein italienisches Gericht entschied im Mai 2005, dass Nassim Saadi keinerlei Verbindung zum internationalen Terrorismus nachgewiesen werden könne. Das Gericht verurteilte ihn jedoch wegen krimineller Verschwörung und Herstellung falschen Beweismaterials. Außerdem wurde Saadi in seiner Abwesenheit im selben Monat von einem tunesischen Militärgericht aufgrund der Mitgliedschaft in einer im Ausland agierenden terroristischen Organisation und wegen der Anstiftung zum Terrorismus zu 20 Jahren Haft verurteilt. Berichten zufolge basiert dieses Urteil auf seinem angeblichen Verhalten in Italien.

Saadi legte Berufung ein, aber der Innenminister befahl im August 2006 seine Abschiebung nach Tunesien mittels des Eilverfahrens, das durch Gesetz 155 vom 31. Juli 2005 (dem sog. „Pisanu Dekret“) geschaffen worden war. Es verweigert einer Person, die mutmaßlich die nationale Sicherheit gefährdet, ausdrücklich das Recht, in Italien zu bleiben, solange das Berufungsverfahren noch läuft. Im Mai 2007 äußerte das UN-Komitee gegen Folter Besorgnis über „die sofortige Vollstreckung dieser Ausweisungsbefehle ohne jegliche vorherige juristische Überprüfung“. Zudem biete das Verfahren „keinen effektiven Schutz“ vor der Rückführung in ein Land, in dem möglicherweise Folter droht (refoulement).

In seinem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte begründet Saadi seine Berufung damit, dass er in Tunesien dem konkreten Risiko der Folter oder anderer Misshandlung und Verletzung der Menschenrechte ausgesetzt sei und deswegen rechtmäßig nicht dorthin zurückgeschickt werden könne. Die italienische Regierung erläuterte ihre Position im Juli vor dem Gericht, indem sie die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verankerte absolute Verpflichtung nochmals überprüfen lassen wolle, eine Person nicht in ein Land zu setzen, in dem Folter oder Misshandlung droht So könne eine Ausnahme des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (der Verpflichtung der non-refoulement) dann gewährt werden, wenn die nationale Sicherheit bedroht sei. Dadurch würde das Risiko der Misshandlung gegen die vermeintliche Bedrohung abgewogen, die von der abzuschiebenden Person ausgeht.

Der Fall Saadi ist einer von mehreren Fällen, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte behandelt werden. Dabei versuchen Großbritannien und eine kleine Gruppe anderer europäischer Regierungen, die Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte zu verändern, wenn das absolute Verbot der Rückführung einer Person an einen Ort verhandelt wird, an dem sie einem realen Risiko der Misshandlung ausgesetzt ist. Dieses Verbot soll zu Gunsten eines Abwägungsprozesses geändert werden, bei dem das Risiko für den Einzelnen dem Risiko für die nationale Sicherheit gegenübergestellt wird.

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