Einleitung

Welche Regierung setzt sich heute am meisten für die Menschenrechte ein? Washingtons potentiell kräftige Stimme wird nicht mehr gehört, nachdem die amerikanische Regierung ohne Gerichtsverfahren Menschen festhält und Folter bei Verhören angewendet hat. Die Regierung von Präsident George W. Bush kann zwar weiterhin für „Demokratie” werben - ein Begriff, mit dem das dornige Thema Menschenrechte erst gar nicht angesprochen werden soll. Aber sie kann sich nicht glaubhaft für Rechte einsetzen, die sie selbst missachtet.   

So sehr der Einfluss Amerikas zurückgeht, so sehr nimmt die Macht Chinas zu. Jedoch kann China kaum eine Führungsrolle in Sachen Menschenrechte übernehmen. Die wachsende wirtschaftliche Macht des Landes steigerte zwar seinen weltweiten Einfluss. China bleibt aber bestenfalls gleichgültig gegenüber der Menschenrechtspraxis anderer Staaten. Im eigenen Land ist China nicht bereit, politische Pluralität oder Rechtsstaatlichkeit zuzulassen, und so vertritt Peking die Auffassung, in den Verhandlungen mit anderen Staaten gehöre das Thema  Menschenrechte zu den inneren Angelegenheiten.

Russland bewegt sich angesichts der Unterdrückung unabhängiger Stimmen im eigenen Land und seinem schmutzigen Krieg in Tschetschenien in dieselbe verkehrte Richtung. Sein Ziel scheint zu sein, die Einflusssphäre besonders unter den Ländern der früheren Sowjetunion wieder aufzubauen, auch wenn dies Unterstützung für Tyrannen und Mörder bedeutet. Präsident Wladimir Putin ging sogar so weit, Menschenrechte als „künstliche Standards“ abzutun.

In diesem düsteren Umfeld könnten die Europäische Union und die weltweit neu entstehenden Demokratien die mögliche Führung auf dem Gebiet der Menschenrechte übernehmen. Jeder von ihnen hat wichtige Beiträge geleistet. Keiner hat jedoch mit der Kontinuität oder Effizienz gehandelt, um die bestehende Führungslücke zu schließen.  

Angesichts der schwächer werdenden Stimme Washingtons sollte heute eigentlich die Europäische Union die Menschenrechte am stärksten und wirkungsvollsten verteidigen. Die EU wurde auf den Prinzipien der Menschenrechte gegründet und strebt nach Einfluss in der Außenpolitik. Jedoch kämpft die Union mit ihrer Erweiterung und tritt daher unerwartet schwach auf. Ihr Bemühen um Konsens zwischen ihren unterschiedlichen Mitgliedern ist so mühsam geworden, dass nur ein schwacher Schatten ihrer wahren Macht am Ende herauskommt. Von der Union wurde erwartet, den europäischen Einfluss zu stärken. Auf dem Gebiet der Menschenrechte ist das Ergebnis der gemeinsamen Politik jedoch weniger, als jedes Mitglied für sich alleine zustande bringt.

Die Demokratien in Lateinamerika, Afrika und Asien, einige bereits seit langem etabliert, viele jedoch neu und noch unsicher, haben begonnen, sich in internationalen Verhandlungen für Menschenrechte einzusetzen. Trotz hoffnungsvoller Momente müssen diese Regierungen dennoch noch mehr über regionale Grenzen hinweg zusammenarbeiten, wenn sie zu einer effektiven gemeinsamen Stimme finden möchten. Zu oft sind sie ihren regionalen Organisationen enger verbunden als Menschenrechtsidealen, zeigen größere Solidarität mit benachbarten Diktatoren als mit den Menschen, deren Rechte sie schützen sollen. Diese Tendenz spielte eine besonders schädliche Rolle im neuen Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, der noch weit davon entfernt ist, besser als die diskreditierte Menschenrechtskommission zu sein. Auch ist zu befürchten, der Menschenrechtsrat könnte den gleichen enttäuschenden Kurs wie sein Vorgänger einschlagen. Die Glaubwürdigkeit des gesamten UN-Systems würde damit geschädigt.

Jede Regierung scheint heutzutage über eine bereits vorgefertigte Entschuldigung zu verfügen, die es erlaubt, Menschenrechte zu missachten. Edelgesinnte Ankündigungen werden immer wieder aus den Hauptstädten und von den Botschaftern bei den Vereinten Nationen verkündet, jedoch ohne den dazugehörigen Durchsetzungswillen zu enthalten, der für eine wirksame Führung oder für Veränderung nötig wäre. Zugeständnisse werden durch Vorbehalte geschmälert, Verpflichtungen durch Rückzugssoptionen. Ob dies die mangelnden Konsequenzen für Sudans kriminelle Kampagne in Darfur betrifft, das Konsensprinzip der EU für gemeinsames Handeln, Chinas angebliche Rücksicht auf nationale Souveränität, Washingtons Konzentration auf den Irak und den Terrorismus oder die Aufgabe der Menschenrechten zu Gunsten regionaler Solidarität durch die Entwicklungsländer – immer überlagern Entschuldigungen für passives Verhalten die Forderung nach entschiedenem Handeln.

Dieser Trend ist düster, jedoch nicht unumkehrbar. Ob die mangelnde Glaubwürdigkeit Washingtons lediglich eine vorübergehende Folge einer besonders rechtsverachtenden Regierung ist oder ein lang anhaltendes Problem, das das amerikanische Ansehen über Jahre hinweg belasten wird, hängt teilweise von dem neu gewählten Kongress ab - ob er den Misstand zurückweist, sich für einen Politikwechsel einsetzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wird. Niemand behauptet, dass dieser Wechsel leicht sein wird, solange die Urheber des Misstands weiterhin die Exekutive kontrollieren. Entscheidend ist jedoch, dass die USA ihren angeschlagenen Ruf als Verteidigerin der Menschenrechte wieder herstellen muss.

Führungskraft ist nötig, um China und Russland zu einem verantwortungsbewußten Verhalten zu bewegen. Peking und Moskau profitieren von geringen Erwartungen. Solange sich nur wenige dafür einsetzen, dass beide Staaten internationale Standards im eigenen Land oder weltweit einhalten, besteht für sie nur wenig Anreiz, dies zu tun. Ihre neu erworbene wirtschaftliche Stärke – Chinas boomender Markt, Russlands Energiereserven - erhöht noch ihr Widerstandspotenzial gegenüber dem bereits schwachen Druck und hält darüber hinaus andere Regierungen davon ab, überhaupt Druck auszuüben. In der Zwischenzeit bietet Chinas wachsende Entwicklungshilfe Diktatoren neue Möglichkeiten. Früher waren sie von Ländern abhängig, die Fortschritte im Menschenrechtsbereich forderten. Diese Entwicklung kann nur dann geändert werden, wenn China und Russland wie Länder behandelt werden, die nach globaler Macht streben. Es muss sicher gestellt werden, dass sie die Menschenrechte gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung und ihresgleichen einhalten und sie zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie dies nicht tun. Sie müssen davon überzeugt werden, dass der Weg zu Einfluss und Ansehen nicht durch Gleichgültigkeit und rücksichtsloses Vorgehen, sondern durch internationale Verantwortung erreicht wird.Von ihnen können kaum Fortschritte erwartet werden, wenn Regierungen für Energieverträge oder Investitionsmöglichkeiten schnell bereit sind, Menschenrechtsstandards aufzugeben.

Während sich einige Länder in Lateinamerika der Überwachung von Menschenrechtsstandards widersetzen, spielen andere Länder der Region eine stärkere Rolle bei deren Umsetzung. Kleine Hoffnungsschimmer lassen sich auch in Afrika und Asien finden. Die Welt braucht einen wahren Verfechter der Menschenrechte aus dem Süden, ein Land, das reflexartiges regionales Denken als anachronistisch ablehnt und dies als Rückschritt in eine Zeit betrachtet, als autoritäre Regierungen gemeinsam die Forderung nach Menschenrechtsstandards abzuweisen versuchten. Wenn heutzutage sich immer mehr Regierungen regelmäßig demokratischen Wahlen stellen und die Ziele ihrer Bevölkerung vertreten, dann sollten sie gegenüber anderen Regierungen die gleichen Rechte fordern, die auch ihren eigenen Bürgern wichtig sind.

Was die Europäische Union betrifft, erkennen viele Mitgliedstaaten ihre Lähmung und suchen nach Lösungen. Das europäische Experiment hat dazu beigetragen, Frieden und Wohlstand den Glücklichen zu bringen, die innerhalb der Union leben. Die EU erfüllt ihr Versprechen jedoch nicht, weltweit als Verteidigerin der Menschenrechte aufzutreten. Manche notwendigen Reformen könnten relativ einfach und schnell umgesetzt werden, so eine Veränderung der hektischen, alle sechs Monate rotierenden Präsidentschaften. Dadurch könnte Erfahrungswissen besser aufgebaut, und es könnten dauerhafte Strategien verfolgt werden. Andere wiederum verlangen ein Abrücken von Tradition und schlechten Gewohnheiten, um die EU transparenter zu gestalteten und um die Kluft zwischen den in der Bevölkerung vorherrschenden Werten und dem Handeln der Regierungen zu schließen.

Weitere Veränderungen würden tiefer gehen. Die Erleichterung von Mehrheitseintscheidungen im Bereich der Menschenrechte würde schnelleres und effektiveres Handeln weltweit ermöglichen. All dies erfordert von den EU-Regierungen aber die Einsicht, dass der Status quo einen inakzeptablen Verzicht  auf Führung bedeutet, in einer Zeit, in der Führung ein knappes Gut geworden ist.