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Irak: USA reagieren nicht auf Massengräber
Neue Informationen zu einer Ausgrabungsstelle nördlich von Bagdad
(Bagdad, 14. Mai 2003) – Obwohl die US-Regierung seit dem 3. Mai über ein Massengrab in Hilla unterrichtet war, wurde nichts unternommen, um es zu schützen, sagte Human Rights Watch heute.


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Irak: Schutz und Erhaltung der Massengräber notwendig



„Die US-Regierung hat versäumt, auf wichtige Informationen und Hinweise über Massengräber zu reagieren. Nun versuchen verzweifelte Familien nach ihren Vermissten zu graben – und zerstören so die Beweise, die forensischen Experten helfen könnten, die Opfer zu identifizieren.“

Peter Bouckaert
Senior Researcher von Human Rights Watch


 
Am 3. Mai forderte der Bürgermeister von Hilla Hilfe von US-Marines an, um das Grab zu sichern. Zwei Tage später berichteten Inspektoren des Pentagon-Büros für "Wiederaufbau und humanitäre Hilfe" (ORHA) den Behörden in Washington, dass das Grab nicht ausreichend geschützt wurde und empfahlen die Entsendung eines forensischen Teams. Am 7. Mai teilte ORHA Washington mit, dass mehrere tausend Leichen in dem Grab zu finden seien.

„Die US-Regierung hat versäumt, auf wichtige Informationen und Hinweise über Massengräber zu reagieren”, sagte Peter Bouckaert, Senior Researcher von Human Rights Watch. „Nun versuchen verzweifelte Familien nach ihren Vermissten zu graben – und zerstören so die Beweise, die forensischen Experten helfen könnten, die Opfer zu identifizieren.“

Weiterhin bestätigte Human Rights Watch heute die Existenz eines bisher geheimen Gräberfeldes, in dem sich numerierte Gräber von mindestens 1000 Gefangenen befinden, vermutlich von der irakischen Regierung exekutiert. Dieses Gräberfeld befindet sich ungefähr 40 Kilometer nördlich von Bagdad in der Nähe des Dorfes Muhammed Sakran.

„Die Entdeckung dieser Gräber könnte ein bedeutender erster Schritt sein, um die Spuren der Vermissten zu verfolgen – wenn die Beweise nicht beschädigt oder zerstört werden“, sagte Bouckaert. „Wichtige Beweise können sehr schnell verloren gehen, wenn Gräber nicht gesichert und forensische Experten schnell entsendet werden“.

Nach ersten Untersuchungen von Human Rights Watch enthält die Grabstätte, die sich neben einem Friedhof befindet, menschliche Überreste von mehr als 1000 Gefangenen, die in dem Zeitraum von 1979 bis 1999 hingerichtet worden waren. Die Leichen sind in flachen Einzelgräbern verscharrt und mit metallenen Plaketten versehen worden.

Human Rights Watch rief die US-geführten Streitkräfte dazu auf, sofortige Schritte zur Sicherung der Grabstätten bei Muhammad Sakran zu unternehmen. Weiterhin sollten forensische Experten entsendet werden, die die Überreste identifizieren und Beweise für eine strafrechtliche Untersuchung der Hinrichtungen sichern.

“Vorsichtigen Schätzungen zufolge werden mindestens 290.000 Menschen im Irak vermisst. Aller Wahrscheinlichkeit nach führen ihre Spuren zu diesen Gräbern”, sagte Bouckaert. “Die Alliierten Truppen müssen klar stellen, dass sie die Grabstätten nicht nur sichern, sondern die Leichen auch so schnell wie möglich identifiziert werden”.

Viele der Leichen in der Muhammad Sakran Grabstätte gehören zu Zivilisten, die in den frühen achtziger Jahren gefangengenommen und hingerichtet worden waren – vermutlich wegen Verdacht auf Zugehörigkeit zu der Irakischen Kommunistischen Partei und islamischen Da’wa-Partei. Unter den identifizierten Opfern befinden sich irakische Shias und Kurden, sowie einige Frauen. Nach Aussagen der Totengräber befinden sich in einigen Gräbern mehr als eine Leiche.
Der Friedhofswärter von Muhammad Sakran berichtete, dass Mitglieder der irakischen Sicherheitsbehörden das Dorf regelmäßig aufsuchten, um neue Gräber für menschliche Überreste zu graben. Den Dorfbewohnern wurde angeordnet, sich von der Grabstätten fern zu halten. Ihnen wurde gesagt, dass die Leichen von Personen ohne nähere Angehörige oder aus medizinischen Projekten seien. Später entdeckte der Wärter drei seiner Cousinen unter den Leichen.

Anhand von Dokumenten des irakischen Geheimdienstes konnten bisher 80 der vergrabenen Opfer bei Muhammad Sakran, den nummerierten Gräbern zugeordnet werden – in einigen Gräbern sind Leichen mit nummerierten Plastikarmbändern begraben worden. Familien haben begonnen, Überreste aus identifizierten Gräbern auszugraben und mindestens 16 Leichen sind für eine standesgemäße Beerdigung weggebracht worden.

Jedoch sind die meisten Gräberplaketten so verfallen, dass bisher jegliche Identifikation der Leichen unmöglich war. Hadi ‘Ashur, ein 66-jähriger Feyli (Shia-Muslime) erreichte die Grabstätte heute, um nach den Überresten von 12 Familienmitgliedern zu suchen, die 1980 festgenommen wurden. Sie waren beschuldigt, Mitglieder der Da’wa-Partei zu sein. Nachdem Hadi’ Ashur mehrere Archive bei Bagdad besuchte, stieß er auf ein Dokument, das bestätigte, dass alle 12 Männer am 28. Juni 1983 zusammen mit 12 weiteren Feyli-Kurden hingerichtet und in Mohammad Sakran begraben worden waren. Hadi’ Ashur konnte jedoch nicht ein einziges Grab seiner Angehörigen ausfindig machen.

Der 30-jährige Riad Sakran Hussein suchte nach Spuren seines Vater, Sakran Hussein al-Shummari, der am 3. September 1980 unter Verdacht, ein Mitglied der Irakischen Kommunistischen Partei zu sein, festgenommen wurde. Ein paar Tage vorher fand Riad Sakran Hussein, den Namen seines Vaters auf einer Liste von Personen, die in dem Musayyib Sicherheitsgebäude im Süden von Bagdadhingerichtet und auf dem Friedhof von Muhammad Sakran begraben worden war. Er konnte jedoch das Grab seines Vaters finden.

Fa’iq ‘Abbud, ein 41- jähriger Geschäftsmann aus Bagdad, suchte nach seinem Bruder Faris, der im Jahre 1983 festgenommen wurde und verschwand. „Bis vor zwei Tagen, gab es keinerlei Neuigkeiten über seinen Verbleib“, sagte er Human Rights Watch. „Dann ist sein Name auf einer Liste in einer der Zeitungen in Bagdad aufgetaucht.“ Fa’iq konnte das Grab seines Bruders jedoch nicht finden.