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Irak: Schutz und Erhaltung der Massengräber notwendig
(New York, 30. April 2003) - Die Massengräber im Irak sollten von den alliierten Truppen in Zusammenarbeit mit örtlichen religiösen und weltlichen Führern geschützt werden, teile Human Rights Watch heute mit. Die Koalitionsstreitkräfte sollten außerdem Behörden und Verfahrensabläufe einrichten, um die Toten zu exhumieren, zu untersuchen und akkurat zu identifizieren, damit die Überreste der Toten an ihre Familien übergeben, Todesfälle beglaubigt und wichtige Beweismittel für die begangenen Gräueltaten erhalten werden können.


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„Diese Bemühungen, aus der Sorge und dem Verlangen hervorgerufen, die Würde der Toten endlich wiederherzustellen, können gleichzeitig die Chancen zunichte machen, Opfer zu identifizieren oder deren Todesursache festzustellen. Dieser natürliche Instinkt, die Überreste eines Verwandten wiederzuerlangen, schadet dem Allgemeinwohl – und man sollte daher auf professionelle Hilfe bei Exhumierung und Wiederbestattung warten.“

Dinah PoKempner
General Counsel bei Human Rights Watch


 
In den letzten Wochen haben viele Familien verzweifelt versucht, die Überreste ihrer Verwandten in den neuentdeckten Gräbern auszugraben.

„Diese Bemühungen, aus der Sorge und dem Verlangen hervorgerufen, die Würde der Toten endlich wiederherzustellen, können gleichzeitig die Chancen zunichte machen, Opfer zu identifizieren oder deren Todesursache festzustellen, “ sagte Dinah PoKempner, General Counsel bei Human Rights Watch. „Dieser natürliche Instinkt, die Überreste eines Verwandten wiederzuerlangen, schadet dem Allgemeinwohl – und man sollte daher auf professionelle Hilfe bei Exhumierung und Wiederbestattung warten.“

Auch haben Human Rights Watch Beobachter im Irak Grabstätten gefunden, die noch nicht explodiertes Militärmaterial enthalten und daher ein beträchtliches Risiko darstellen.

„Massengräber sind oft Tatorte von Verbrechen und die alliierten Truppen haben als Besatzungsmacht im Irak die Pflicht, Beweise sicherzustellen, mit denen die Täter solcher Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden können“, sagte PoKempner.

Auch unter den besten Bedingungen ist die Identifizierung eines Toten in einem anonymen Grab schwierig und setzt eine Vielzahl von Untersuchungen voraus: Zahnärztliche und andere medizinische Zeugnisse werden gesammelt, Kleidung und andere persönliche Gegenstände werden untersucht, es wird nachgeforscht, wo die Person zuletzt gesehen wurde und die militärische und gesellschaftliche Lage in der Region wird in Betracht gezogen usw. Grabstätte und Exhumierung müssen dokumentiert und die Überreste wissenschaftlich analysiert werden.

Im Falle von Gräbern, in denen mehr als ein Toter begraben liegt, ist die Identifizierung noch komplizierter und nur unter Zuhilfenahme spezieller forensischer Untersuchungen möglich, um sicherzustellen, dass die Überreste nicht vermischt werden. Außerdem müssen während der Exhumierung die für die Todeszeitpunkt und Ursache relevanten Informationen peinlich genau dokumentiert werden. Unqualifiziertes Öffnen und Graben in Gräbern kann leicht alle Chancen zunichte machen, die wichtigsten Fakten über die dort begrabenen Personen herauszufinden - wie ihre Identität, den genauen Zeitpunkt, Ursache und Umstände ihres Todes. Häufig können allgemeine Merkmale eines Grabes, wie Anordnung der Körper, die Art, wie sie beerdigt, verlegt oder verborgen wurden, wichtige Beweismittel für Gewaltverbrechen liefern..

Daher sollte unverzüglich ein Büro für vermisste Personen, das Detailinformationen über Opfer aufnehmen und bei der Sicherung ihrer Überreste helfen kann, bekantgegeben und eingerichtet werden. Ein solches Büro, das mit internationalen und lokalen Nichtregierungsorganisationen sowie dem Justizsystem zusammenarbeiten würde, würde den Familien der Opfer Respekt zollen. Ein Verfahren zur rechtlichen Anerkennung der Exhumierungen und zur Identifizierung der sterblichen Überreste ist außerdem nötig, so dass der Tod eines Angehörigen nachgewiesen werden kann, etwa als Grundlage einer Wiedergutmachung für grobe Menschenrechtsverletzungen, zum Nachweis der Staatsbürgerschaft, als Voraussetzung für erneute Heirat und in Erbschaftsangelegenheiten.

Human Rights Watch drängt darauf, dass die folgenden Maßnahmen umgehend ergriffen werden:

  • In Zusammenarbeiten mit lokalen religiösen und säkularen Führern sollten die alliierten Streitkräfte umgehend den Schutz der Gräber organisieren. Auch muss die irakische Bevölkerung über die Schädlichkeit von spontanen Exhumierungen informiert werden.
  • Als Zwischenschritt sollten Einzelpersonen veranlasst werden, Grabstätten und die vorgefundenen sterblichen Überreste den Einrichtungen der Koalition sowie lokalen und internationalen Organisationen zu melden. All diese Gruppen sollten vorbereitet sein, dieses Material zentral zu sammeln und zusammenzutragen. Auch sollte eine Informationskampagne gestartet werden, die darüber aufklärt, wie Gräber lokalisiert und photographiert werden sollten.

Für ein System, das die Identifizierung der Toten sicherstellt und Beweise für Gräueltaten bewahren kann, empfiehlt Human Rights Watch außerdem:

  • Die alliierten Streitkräfte sollten baldmöglichst Experten bestellen, um die Massengräber zu sichten, die schützenswertesten Grabstätten festzustellen und einheitliche Exhumierungsprotokolle zu formulieren.
  • Bevor weiterer Schaden angerichtet wird, sollten die Gräber so bald wie möglich dokumentiert werden, damit eine Bestandsaufnahme ihres Zustands aufgenommen werden kann. Dies beinhaltet das Anfertigen von Karten, photographische Dokumentation von Oberfläche und sichtbaren Überresten im Überblick sowie im Detail. Ein solches Verfahren würde es den Experten ermöglichen, den Zustand der Gräber einzuschätzen und zu bestimmen, ob diese bereits geöffnet wurden.
  • Weiterhin sollte eine Kommission, die sich mit dem Problem vermisster Personen befasst und die in allen irakischen Regionen Informationen über Vermisste entgegennimmt sowie die Bergung und Identifizierung der sterblichen Überreste erleichtert zügig etabliert werden.
  • Ausserdem muss ein rechtlicher Ordnungsrahmen für das Feststellen des Todes vermisster Personen anerkannt werden, so dass Familien und Einzelpersonen ihre Rechte schützen, ausüben und Wiedergutmachungen erhalten können.
  • Um einen Prozess der viele Jahre dauern wird zu beginnen, sollten Programme eingerichtet werden, die irakische Teams zu forensischen Untersuchungen ausbilden werden.
  • Um die Bedürfnisse der Familien von Opfern zu berücksichtigen und die Toten mit angemessener Würde zu behandeln, sollten alle Maßnahmen, Programme und Institutionen religiöse und kulturelle Sensibilitäten berücksichtigen, und den Kontakt mit gesellschaftlichen und religiösen Institutionen einschließen.