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Kolumbien/Venezuela: Angriffe auf Zivilisten im Grenzgebiet

Tötungen, Verschwindenlassen, Rekrutierung von Kindersoldaten bleiben ungestraft

(Bogotá) – Bewaffnete Gruppen haben beim Kampf um die Kontrolle über Catatumbo, einer Region im Nordosten Kolumbiens, schwerste Menschenrechtsverletzungen an kolumbianischen und venezolanischen Zivilisten begangen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 64-seitige Bericht „The War in Catatumbo: Abuses by Armed Groups Against Civilians Including Venezuelan Exiles in Northeastern Colombia“ dokumentiert Tötungen, Fälle von Verschwindenlassen, sexuelle Gewalt, Rekrutierung von Kindersoldaten und Zwangsvertreibung durch die National Liberation Army (ELN), die Popular Liberation Army (EPL) und eine Gruppe, die aus den demobilisierten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) hervorgegangen ist. Bewaffnete Gruppen nutzen Drohungen, um die Kontrolle über die Region zu erlangen. So wurden auch Gemeindeführer und Menschenrechtsverteidiger bedroht, einige von ihnen sogar getötet. Auch Venezolaner, die vor der humanitären Notlage in ihrem Land geflohen sind, gehören zu den Opfern.

„Während bewaffnete Gruppen darum kämpfen, die von der FARC in Catatumbo hinterlassene Machtlücke zu füllen, werden Hunderte Zivilisten in den Konflikt mit hineingezogen“, sagte José Miguel Vivanco, Leiter der Abteilung Mittel- und Südamerika bei Human Rights Watch. „Venezolaner, die vor der humanitären Notlage in ihrem eigenen Land fliehen, geraten in einen Strudel aus Krieg und verzweifelter Flucht.“

Gewalt und Menschenrechtsverletzungen haben in Catatumbo stark zugenommen, seit die FARC 2017 im Rahmen ihres Friedensabkommens mit der Regierung demobilisiert wurde. Die kolumbianische Regierung hält sich nicht an ihre Menschenrechtsverpflichtungen, die sie zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Entschädigung der Opfer anhalten.

Im April 2019 sprach Human Rights Watch mit mehr als 80 Personen, darunter Opfer von Menschenrechtsverletzungen, ihre Angehörigen, Gemeindeleiter, Kirchenvertreter, Menschenrechtsvertreter, Mitarbeiter lokaler Behörden, Justizbeamte und Mitglieder von humanitären und Menschenrechtsorganisationen, die in der Region tätig sind. Die Interviews wurden in Catatumbo und in Cúcuta geführt, der Hauptstadt der Provinz North Santander. Einige Interviews führte Human Rights telefonisch durch.

Human Rights Watch prüfte zudem offizielle Berichte und Statistiken, Veröffentlichungen von Nichtregierungsorganisationen und internationalen Organisationen sowie Zeugenaussagen, die Regierungsbeamten von fast 500 Opfern von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt schriftlich vorliegen. Die Gesamtzahl der Fälle liegt höchstwahrscheinlich über der von den Regierungsbehörden erfassten, bedenkt man die Angst der Opfer vor Vergeltungsmaßnahmen durch bewaffnete Gruppen wegen der Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen oder die Angst venezolanischer Opfer vor Abschiebung.

„Diejenigen, die Teil des Konflikts sind, erleiden nicht das, was wir, die Menschen auf dem Land..., erleiden“, sagte ein Lehrer einer Schule auf dem Land, der seinen Fuß verlor, als eine Landmine nur wenige Meter vom Schulgelände entfernt explodierte. „Wir bezahlen für einen Konflikt, den sie ausgelöst haben.“

Begrenzte Einwanderungskontrollen und besser bezahlte Arbeitsplätze ziehen Venezolaner in die Grenzgebiete von Catatumbo. Laut dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) leben mindestens 25.000 Venezolaner in Catatumbo. Verzweifelte und oft undokumentierte Venezolaner gehören zu denjenigen, die gewaltsam vertrieben und getötet werden. Venezolanische Kinder wiederum werden als Kindersoldaten rekrutiert.

In Catatumbo mussten seit 2017 mehr als 40.000 Menschen ihre Häusern verlassen, die meisten im Jahr 2018, so die offiziellen Zahlen der Regierung. Einige wurden gewaltsam vertrieben. Die Betroffenen sind geflohen, nachdem bewaffnete Gruppen sie wegen angeblicher Zusammenarbeit mit konkurrierenden Gruppen oder der Regierung bedroht hatten. Andere ergriffen die Flucht, nachdem sie sich geweigert hatten, sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen, und daraufhin bedroht wurden.

OCHA berichtete, dass allein im Jahr 2018 109 Zivilisten getötet wurden. Laut der Untersuchungen der kolumbianischen Staatsanwaltschaft und des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) haben bewaffnete Gruppen neun Menschenrechtsverteidiger und Gemeindeführer getötet.

„Gemeindeführer spielen eine wesentliche Rolle, um Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme zu geben und zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in abgelegenen Gebieten Kolumbiens beizutragen“, so Vivanco. „Die kolumbianische Regierung soll mehr dafür tun, um sie zu schützen und sicherzustellen, dass die Verantwortlichen für diese Morde zur Rechenschaft gezogen werden.“

Bewaffnete Gruppen sind in Entführungen und Fälle von Verschwindenlassen sowie Vergewaltigungen und andere sexuelle Gewalttaten verwickelt.

Kinder im Alter von gerade einmal 12 Jahren werden gezwungen, einer bewaffneten Gruppe beizutreten, nachdem Mitglieder ihnen damit gedroht hatten, sie oder ihre Familien zu töten. Andere schließen sich für Geld einer Gruppe an. Human Rights Watch überprüfte die Zeugenaussagen in einem Dutzend Fälle, in denen Familien geflohen waren, nachdem eine bewaffnete Gruppe ein Kind bedroht hatte oder es rekrutieren wollte. Berichten zufolge platzieren bewaffnete Gruppen auch Antipersonenminen in ländlichen Gebieten von Catatumbo, wo die FARC zuvor ebenfalls Landminen eingesetzt hatten. Seit 2017 sind in Catatumbo vier Menschen durch Landminen gestorben, weitere 65 wurden verletzt.

Die kolumbianischen Behörden haben bislang bewaffnete Gruppen für von ihnen begangene Menschenrechtsverletzungen nicht zur Rechenschaft gezogen. Im April 2019 waren 770 Mordfälle anhängig, die seit 2017 in Catatumbo begangen wurden. Es gab Verurteilungen in 61 Fällen, und nur zwei Mitglieder von bewaffneten Gruppen wurden wegen Mordes angeklagt, so die Staatsanwaltschaft. Niemand wurde wegen Bedrohung, Rekrutierung von Kindern als Soldaten oder Verschwindenlassen angeklagt, Straftaten, die nach kolumbianischem Recht sowohl von staatlichen als auch von privaten Akteuren begangen werden können. Zwei Mitglieder bewaffneter Gruppen wurden wegen Zwangsvertreibung angeklagt, jedoch wurde keiner verurteilt; 480 Fälle sind weiterhin anhängig.

Die im kolumbianischen Recht vorgesehene Hilfe für Vertriebene sei langsam und unzureichend, so die humanitären Helfer in der Region. Hunderte von Menschen leben in provisorischen Notunterkünften, die von den Gemeinden errichtet wurden. In einigen Unterkünften gibt es weder Möbel noch fließendes Wasser. Die Behörden haben es zudem versäumt, die vom Büro der Bürgerbeauftragten für Menschenrechte festgestellten Risiken für Menschenrechte angemessen anzugehen.

Im Oktober 2018 richtete die kolumbianische Regierung eine Schnelle Eingreiftruppe ein, um die Zahl der Militärs in Catatumbo um 5.600 zu erhöhen. Einwohner, Verantwortliche für Menschenrechte und humanitäre Helfer haben über Übergriffe von Soldaten gegen Zivilisten berichtet. So hätten Soldaten Zivilisten u.a. vorgeworfen, sie stünden in Verbindung zu Guerillagruppen, und sie an militärischen Kontrollpunkten verhört, wodurch sie Vergeltungsmaßnahmen durch bewaffnete Gruppen ausgesetzt wurden. Im April 2019 tötete ein Soldat ein Mitglied der demobilisierten FARC.

Um ihren Verpflichtungen gemäß internationalem und kolumbianischem Recht nachzukommen, soll die kolumbianische Regierung Strategien für Militär und Polizei einsetzen, in denen die Menschenrechte höchste Priorität haben und durch die die Zivilbevölkerung geschützt wird. Sie soll die Staatsanwälte bei der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete Gruppen weiter unterstützen und internationale Hilfe für Vertriebene suchen. Sie soll zudem eine umfassende Bewertung der Zahl der in Catatumbo lebenden Venezolaner und ihrer Bedürfnisse durchführen und sicherstellen, dass alle Venezolaner legal in Kolumbien arbeiten können, auch in sichereren Teilen des Landes.

„Die Bemühungen der Regierung, die Militärpräsenz in Catatumbo zu verstärken, müssen Hand in Hand gehen mit umfassenderen Maßnahmen. Strafrechtliche Ermittlungen müssen ebenso unterstützt werden wie humanitäre Hilfe, um die Rechte von Bauern und Exilvenezolanern in der Region zu schützen“, sagte Vivanco.

Ausgewählte Fälle, die von Human Rights Watch dokumentiert wurden, finden Sie weiter unten.

Beatriz (Name geändert) wurde Mitte 2017 vergewaltigt. An diesem Tag arbeitete sie als Köchin für Landarbeiter. Ihr Mann arbeitete auf der gleichen Farm. Gegen 17 Uhr kam eine Gruppe von uniformierten Männern an, deren Gesichter unter Sturmhauben versteckt waren. Die Männer schrien, warum „zum Teufel“ das Paar nicht gegangen war, nachdem sie „gewarnt“ worden waren. Sie fragten, ob noch jemand anderes auf der Farm sei. Beatriz‘ Mann sagte nein, um die anderen Arbeiter zu schützen.

Die Guerillas schickten Männer, um nachzusehen. Vier der Männer, die das ELN-Logo auf ihrer Kleidung trugen, blieben. Zwei von ihnen griffen Beatriz sexuell an, während die anderen ihren Mann dazu zwangen, zuzusehen. Beatriz verlor das Bewusstsein und wachte zwei Stunden später in den Armen ihres Mannes auf. Sie flohen in eine nahegelegene Stadt. Aufgrund der Scham und des psychologischen Traumas meldeten sie den Vorfall erst einige Monate später.

Dalila (Name geändert) lebte zwischen zwei Gebirgsketten, in denen bewaffnete Gruppen operieren. Unter den Gruppen kam es oft zu Kämpfen, berichtete sie den Behörden. Die Wände ihres Hauses sind voller Einschusslöcher, die von Schießereien stammen. Eines Nachmittags im Frühjahr 2018 kamen drei Männer zu ihrem Haus. Sie waren bewaffnet und trugen Uniformen, Dalila sagte jedoch, sie wisse nicht, zu welcher Gruppe sie gehörten. Sie sagten ihr, dass sie ihre ältesten Kinder, die 17 und 14 Jahre alt waren, mitnehmen würden. Dalila sagte, sie habe ihnen gesagt, dass sie sie zuerst töten müssten. Die Männer sagten, sie hätte ein paar Stunden Zeit, um zu gehen. Sie schickte ihre beiden Söhne in eine andere Gemeinde, in der ihre Schwester lebte. Dalila ging zurück, um ihre Tiere zu verkaufen, und floh in eine nahegelegene Stadt.  

Alejandro Rodríguez (Name geändert), 34, ist Grundschullehrer an einer ländlichen Schule in Catatumbo. Gegen 13.00 Uhr am 5. Februar 2019 suchte Rodríguez nach einem Fußball, den ein Schüler vom Schulgelände geschossen hatte, etwa 15 Meter von der Stelle entfernt, an der die Schüler spielten. Rodríguez trat auf etwas, das explodierte - wahrscheinlich eine Landmine. Nachbarn halfen ihm, in die nächste Stadt zu gelangen, die mehrere Stunden entfernt liegt. Er verlor seinen Fuß.

Als wir ihn im April befragten, sagte er, dass niemand von der Regierung das Gebiet in den zwei Monaten seit dem Vorfall besucht habe, um zu sehen, ob es in der Nähe der Schule noch andere Landminen gab. Er sagte, er sei in ein städtisches Gebiet gezogen, um sich medizinisch behandeln zu lassen. In seiner ländlichen Gemeinde hatte er fast jeden Tag Schüsse gehört und die Kinder hatten Angst davor, zur Schule zu gehen, so Rodríguez.

Henry Pérez Ramírez, ein 46-jähriger Gemeindevorsteher, ging am 26. Januar 2016 früh am Morgen zu seinen Feldern und kam nicht zurück, so seine Frau Elibeth Murcia Castro. Ein Mann erzählte ihr später, er habe Tage zuvor zufällig mitbekommen, wie Pérez Ramírez am Telefon mit einem FARC-Mitglied sprach. Das FARC-Mitglied hatte ihm Fragen darüber gestellt, wo die kolumbianischen Streitkräfte operierten, und um ein Treffen am 26. Januar gebeten.

Murcia Castro sagte, dass Pérez Ramírez zuvor von dem FARC-Mitglied bedroht worden war. Sie und ihre Familie suchten verzweifelt nach ihm und sie machte Meldung bei den Justizbehörden und dem Büro der Menschenrechtsbeauftragten ein, sein Aufenthaltsort ist jedoch nach wie vor unbekannt. „Ich wünsche mir nichts mehr, als ihn zu finden“, sagte sie uns. „Und nicht mit dieser Ungewissheit leben, nicht zu wissen, ob er noch lebt oder nicht.“

Enrique Pérez (Name geändert), 14, kam im Februar 2019 mit seiner Mutter in Catatumbo an. Sie verließen den Bundesstaat Trujillo in Venezuela, weil Enriques Eltern die Familie nicht mehr ausreichend ernähren konnten. An manchen Tagen gab es nur einmal am Tag etwas zu essen, manchmal aßen sie nur jeden zweiten Tag etwas. In Venezuela war Enrique zur Schule gegangen, hatte diese aber abgebrochen, um in der glühenden Hitze auf den Kokaplantagen zu arbeiten. Manchmal arbeiten Venezolaner nur für einen Teller Essen, sagte er. Enrique sagte weiter, dass er mit kolumbianischen und venezolanischen Kindern zusammenarbeite, von denen manche erst 8 Jahre alt seien und dass er gerne wieder zur Schule gehen würde, er stattdessen aber arbeiten gehen müsse.

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