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Russland: Strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus

Europäischer Gerichtshof hat 104 Urteile gegen Moskau zu Morden und anderen Straftaten veröffentlicht

(Moskau, 4. Juni 2009) – Russland wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in mehr als 100 Fällen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien verurteilt. Dennoch hat die russische Regierung keine entscheidenden Schritte unternommen, um die Situation zu verbessern, so Human Rights Watch, das Memorial Menschenrechtszentrum und die Russian Justice Initiative.

In den Urteilen wird Russland vorgeworfen, Straftaten nicht angemessen zu untersuchen und Täter nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Zu den schweren Menschenrechtsverletzungen zählen etwa: außergerichtliche Hinrichtungen, Verschwindenlassen von Personen und Folter. Bei den Menschenrechtskonsultationen zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation am 26. Mai 2009 haben sich beide Seiten darauf geeinigt, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte umgehend realisiert werden sollen.

„Mehrfach hat sich der Gerichtshof mit der Forderung an Russland gewendet, die Missstände in Tschetschenien zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen“, so Allison Gill, Direktorin des Moskauer Büros von Human Rights Watch. „Wir begrüßen, Russlands erklärte Bereitschaft zu handeln. Doch das Wichtigste ist jetzt, dass es sein Versprechen einhält. Dies ist der einzige Weg, Morde und andere Gewalttaten zu beenden.“

Seit den ersten Urteilssprüchen zu Tschetschenien im Februar 2005 hat der Europäische Gerichtshof Russland für den Tod von über 200 Personen verantwortlich gemacht, hauptsächlich Morde und Verschleppungen durch russische Truppen in Tschetschenien. Der Gerichtshof hat sein hundertstes Urteil zu Tschteschenien am 14. Mai 2009 ausgesprochen. Die jüngsten Urteile stammen vom 28. Mai 2009 (http://www.srji.org/en/news/2009/05/71/).

Als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention ist Russland dazu verpflichtet, die vom Gerichtshof ausgesprochenen Urteile umzusetzen. Hierzu gehören unter anderem, die vom Gerichtshof verfügten Entschädigungszahlungen zu übernehmen und individuelle Wiedergutmachung zu leisten, was ordnungsgemäße strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Gerichtsverhandlungen und die Verurteilung der Täter einschließt.

Zwei Drittel der Urteile zu Tschetschenien betreffen die Verschleppung von Personen. Die restlichen beziehen sich zum größten Teil auf außergerichtliche Hinrichtung, willkürliche Bombardierung, Folter und die Zerstörung von Eigentum. Bisher hat Russland noch keine einzige Person für die in den Gerichtsentscheiden festgehaltenen Vergehen zur Verantwortung gezogen.

Mindestens 300 weitere Fälle zu Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und anderen Republiken im nördlichen Teil des Kaukasus liegen dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vor.

„Russland wurde in mehr Fällen als jedes andere der 46 Mitgliedsstaaten seit Gründung des Gerichts im Jahr 1959 schuldig gesprochen, das Recht auf Leben verletzt zu haben, so Roemer Lemaitre, Direktor der Programm- und Rechtsabteilung der Russian Justice Initiative. „Das Recht auf Leben wird in Tschetschenien so lange bedeutungslos bleiben, bis die Täter bestraft werden.“

In 102 von 104 Urteilen verurteilt der Europäische Gerichtshof Russland, weil keine effektiven, angemessenen Untersuchungen zu Menschenrechtsverletzungen durchgeführt wurden, obwohl in den meisten Fällen überzeugende Beweise dafür vorhanden waren, dass staatliche Vertreter verantwortlich waren. Untersuchungen sind routinemäßig verzögert worden, angeblich wegen der „nicht möglichen Identifizierung der Täter.“

Der Europäische Gerichtshof kritisiert Russland vor allem in Fällen, in denen die Identität der Täter bekannt ist, jedoch keine effektiven Untersuchungen durchgeführt wurden, die letztendlich zu einer Strafverfolgung hätten führen können. Zudem wurden Vergehen von hochrangigen Offizieren von den russischen Behörden nicht verfolgt, selbst wenn Beweismaterial vorlag. So bestätigte etwa der Gerichtshof in der Entscheidung Bazorkina v. Russland, dass Generaloberst Alexander Baranov den Befehl gegeben hatte, den Häftling Khadzhi-Murat Yangdiyev hinzurichten. Der Vorfall im Februar 2000 wurde von einem CNN-Korrespondenten gefilmt. Anschliessend ist Yandiyev verschwunden. Die russische Regierung hat dennoch nichts unternommen, um die Rolle Baranovs zu untersuchen.

Auch in einer Entscheidung vom Februar 2005 hat der Europäische Gerichtshof Leutnant Vladimir Shamanov für eine militärische Operation im Februar 2000 im Dorf Katyr-Yurt verantwortlich gemacht, bei der „Waffen in starkem Maß willkürlich eingesetzt wurden“ und Zivilisten starben.(https://www.hrw.org/en/news/2009/05/27/russia-investigate-general-who-got... ). Russlands Behörden untersuchten den Fall, fanden aber keinen Beweis für ein mögliches Verbrechen.

In nur einem Fall hat der Gerichtshof keine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention gefunden. Ein russischer Gerichtshof verurteilte einen Soldaten, der einen jungen Tschetschenen getötet hatte, zu zehn Jahren Gefängnis. Obwohl das Verfahren gegen den Soldaten erst begonnen hatte, als sich die Angehörigen des Opfers bereits an den Europäischen Gerichtshof gewandt hatten, hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass die Angehörigen des Opfers eine ausreichende Entschädigung auf nationaler Ebene erhalten hatten.

Als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention ist Russland zu Maßnahmen verpflichtet, wie etwa die Reform und Anwendung von Gesetzen, um zukünftigen Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen. Das Ministerkomitee des Europarats, das die Umsetzung dieser Maßnahmen beaufsichtigt, hat vier Schwerpunkte bezüglich der Tschetschenien-Fällen gesetzt: die Verbesserung der rechtlichen und regulativen Rahmenbedingungen für die Arbeit der Sicherheitskräfte, Trainingsmaßnahmen für Sicherheitskräfte, die Verbesserung der nationalen Rechtsmittel im Falle von Menschenrechtsverletzungen und die verstärke Kooperation Russlands mit dem Gericht.

„Die russische Regierung hat es sich leicht gemacht, indem sie den Opfern Entschädigungen gezahlt hat“, sagte Oleg Orlov, Vorsitzender des Memorial Menschenrechtszentrums. „Allerdings hat sie den wesentlichen Kern der Urteile nicht ausreichend realisiert.“

Bei dem Treffen vom 2. bis 5. Juni in Straßburg, Frankreich, wird das Ministerkomitee überprüfen, ob Russland die Urteile umsetzt, einschließlich der Bestimmungen zu Tschetschenien.

Russland wurde von den europäischen Staats- und Regierungschefs darauf hingewiesen, das Protokoll 14 der Menschenrechtskonvention noch nicht ratifiziert zu haben. Das Protokoll würde die Verfahren vor dem überbelasteten Gerichtshof beschleunigen und die Befugnisse des Ministerkomitees bei der Überwachung und Umsetzung der Urteile erweitern. Russland ist das einzige Mitglied im Europarat, das das Protokoll nicht ratifiziert hat.

Human Rights Watch, das Memorial Menschenrechtszentrum und die Russian Justice Initiative haben die russische Regierung zu folgenden Punkten aufgefordert:

  • Ratifizierung des Protokoll 14;
  • Angemessen und effektive Wiederaufnahme von Untersuchungen in den Fällen, in denen der Europäische Gerichtshof entschieden hat, dass frühere Ermittlungen unzureichend ausgeführt wurden, damit die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden;
  • Gründliche Überprüfung und Überarbeitung der nationalen Gesetzgebung und Verfahren zum Einsatz von Gewalt durch Militär oder Sicherheitskräfte, um die Einhaltung von Menschenrechtsstandards sicherzustellen;
  • Gründliche Untersuchung der bisherigen Ermittlungen, die zu Menschenrechtsverletzungen durch das Militär, die Polizei und den Geheimdienst sowie anderen Truppen in Tschetschenien durchgeführt wurden, um den Grund für deren Erfolglosigkeit zu überprüfen.

Weitere Informationen zu den Tschetschenien-Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte finden Sie in englischer Sprache unter:

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