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© 2019 Eda Çağıl Çağlarırmak for Human Rights Watch

(Warschau) – Die tadschikische Regierung untersucht oder verfolgt Fälle häuslicher Gewalt viel zu selten. Auch tut sie kaum etwas, um Überlebende zu unterstützen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Trotz mancher Fortschritte ist häusliche Gewalt in Tadschikistan keine Straftat. Frauen, die misshandelt werden, erhalten weder angemessenen Schutz noch haben sie Zugang zu Notunterkünften oder anderen Diensten.

Der 93-seitige Bericht „‘Violence with Every Step’: Weak State Response to Domestic Violence in Tajikistan“ dokumentiert die Hürden, mit denen Überlebende häuslicher Gewalt konfrontiert sind, wenn sie Hilfe suchen oder die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wollen. Trotz Gesetzen, die das Recht Überlebender auf Schutz und soziale Dienste garantieren, bestehen weiter Lücken im polizeilichen und gerichtlichen Umgang mit häuslicher Gewalt. Unter anderem werden Anzeigen nicht verfolgt, Schutzanordnungen nicht erlassen oder nicht durchgesetzt sowie häusliche Gewalt als Bagatelldelikt abgetan. Zusammen mit dem Bericht veröffentlicht Human Rights Watch ein Video, in dem Überlebende häuslicher Gewalt schildern, wie schwierig es für sie ist, Schutz zu erhalten.

„So wie in Tadschikistan mit Opfern häuslicher Gewalt umgegangen wird, sind die betroffenen Frauen nicht geschützt“, so Steve Swerdlow, Zentralasien-Experte bei Human Rights Watch. „Beamte ignorieren ihre Pflicht, das Gesetz gegen häusliche Gewalt durchzusetzen.“

Auf ein im Jahr 2013 verabschiedetes Gesetz gegen häusliche Gewalt folgten wichtige Maßnahmen, etwa Kampagnen, die das Bewusstsein für das Problem schärfen sollten. Auch wurden speziell für solche Fälle ausgebildete Polizistinnen in einigen Polizeirevieren eingestellt. Überlebende, Anwälte und Mitarbeiter von Unterstützungsstellen berichteten nichtsdestotrotz, dass die Polizei das Gesetz häufig ignoriert und Opfer weder angemessen geschützt noch in Notunterkünften untergebracht werden.

Die große Dunkelziffer und unzureichende offizielle Daten führen dazu, dass das genaue Ausmaß häuslicher Gewalt in Tadschikistan unbekannt ist. Lokale und internationale Organisationen sagen, das Problem sei weit verbreitet. Im Jahr 2016 berichtete UN Women, die UN-Agentur zur Förderung der Geschlechtergerechtigkeit, dass häusliche Gewalt mindestens eine von fünf Frauen und Mädchen im Land betrifft, und bezog sich dabei auf Regierungsstatistiken. Im November 2018 äußerte sich das UN-Komitee, das die Umsetzung der Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau überprüft, besorgt darüber, dass „häusliche Gewalt in Tadschikistan weit verbreitet ist, aber kaum zur Anzeige gebracht wird“. Zudem kritisierte das Komitee, dass häusliche Gewalt genau wie Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe in der Ehe keine Straftat ist.

Human Rights Watch befragte über 80 Personen, darunter 55 Frauen, die häusliche Gewalt überlebt haben, Polizisten, Anwälte, Mitarbeiter von Notunterkünften und Krisenanlaufstellen, Regierungsvertreter, Mitarbeiter anderer Unterstützungsstellen sowie Vertreter der UN, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und anderer internationaler Organisationen, die Projekte gegen Gewalt gegen Frauen durchführen.

Die tadschikische Regierung reagierte nicht auf Anfragen, wie das Gesetz gegen häusliche Gewalt umgesetzt wird, und kommentierte auch die Untersuchungsergebnisse nicht.

Die befragten Frauen schilderten, dass sie jahrelang Misshandlungen erlebt haben. Die Täter waren meistens ihre Ehemänner oder Partner, die sie vergewaltigten, mit Messern angriffen, strangulierten und mit scharfen und schweren Objekten wie Schaufeln, Schüreisen, Bügeleisen und Stühlen verprügelten. Die Frauen berichteten, dass die Täter sie aushungerten, ihnen ihre Kleidung wegnahmen und sie die Toilette und die Küche nicht benutzen ließen. Die Misshandlungen führten zu Verletzungen bis hin zu inneren Blutungen und Schäden an lebenswichtigen Organen, Gehirnerschütterungen, Schädelbrüchen, Kieferbrüchen und schweren Blutergüssen sowie zu Traumata und seelischem Leid.

„Nachdem er mich verprügelt hatte, konnte ich gerade noch fliehen und wandte mich blutüberströmt an die Staatsanwaltschaft der Stadt“, sagt eine 28-jährige Frau, die vier Jahre lang von ihrem Ehemann misshandelt und vergewaltigt wurde. Als sie versuchte, das Verbrechen anzuzeigen, unterbrach sie der Staatsanwalt und fragte: „Sind Sie nicht selbst daran schuld?“ Er rief ihren Ehemann an, teilte ihm ihren Aufenthaltsort mit und sagte ihr: „Das wird schon wieder. Gehen Sie nach Hause.“

Das Gesetz gegen häusliche Gewalt ermöglicht es der Polizei und Gerichten, zeitlich befristete oder langfristige Schutzanordnungen zu erlassen, um weitere Misshandlungen zu verhindern oder den Kontakt zwischen Täter und Opfer zu unterbinden. Allerdings berichteten viele Überlebende, dass die Polizei sie nie über diese Möglichkeit informiert hat oder Täter, die sich einer Schutzanordnung widersetzten, nicht bestraft hat. Misshandlungen werden nur sehr selten strafrechtlich verfolgt und vor Gericht gebracht.

„Gewalttäter gehören vor Gericht“, so Swerdlow. „Wenn sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden, dann entsteht der Eindruck, dass häusliche Gewalt akzeptiert wird.“

Zudem gibt es viel zu wenige Angebote für Überlebende. In Tadschikistan kommen auf die knapp neun Millionen Einwohner gerade einmal vier Notunterkünfte für Überlebende häuslicher Gewalt, was weit hinter den internationalen Minimalstandards zurückbleibt. Die meisten existierenden Angebote stellen Nichtregierungsorganisationen zur Verfügung. Obwohl es ein Netzwerk staatlich unterstützter Rettungszentren für Frauen gibt, gibt es praktisch keine qualifizierten psychosozialen oder psychologischen Beratungsangebote. Ebenso fehlt es an Rechtsberatung für Überlebende, auch hinsichtlich der Aufteilung gemeinsamen Besitzes nach einer Scheidung.

Überlebende und Aktivisten berichteten, dass die Beratung sogar in Fraueneinrichtungen und Notunterkünften in der Regel darauf gerichtet ist, die Überlebenden mit den Tätern zu versöhnen. Zu gewährleisten, dass die Opfer geschützt und unterstützt und die Täter für schwere Gewalttaten zur Rechenschaft gezogen werden, darum geht es meist nicht. Stattdessen werden Frauen häufig dazu ermutigt, in von Gewalt geprägte Beziehungen zurückzukehren, und erleben dann weiterhin Missbrauch.

Andere Hürden für Betroffene sind ihre finanzielle Abhängigkeit vom Täter und die Angst davor, das Sorgerecht für ihre Kinder zu verlieren. Viele Frauen bleiben eigenen Angaben zufolge deswegen mit ihrem Partner zusammen oder versuchen, sich mit gewalttätigen Ehemännern zu versöhnen, weil sie und ihre Kinder ansonsten hungern müssten.

In Tadschikistan leben Ehefrauen oft mit ihren Schwiegereltern zusammen. Anderer Wohnraum ist auch nach Scheidungen schwer zu finden. Wegen einer Rechtsvorschrift, die als vseleniie bezeichnet wird, ordnen Gerichte häufig an, dass eine geschiedene Frau und ihre Kinder einen Teil des Hauses ihrer ehemaligen Schwiegereltern und ihres Ex-Mannes erhalten, um dort zu leben. Durch vseleniie geraten viele Frauen und Überlebende in eine noch prekärere Situation als zuvor, in der sie ständig fürchten müssen, erneut Gewalt zu erleben.

Das Risiko für häusliche Gewalt wird auch durch Polygamie und inoffizielle Zwangs- und Kinderehen erhöht. Diese gibt es weiterhin, obwohl die Regierung das Heiratsalter auf 18 Jahre erhöht und Maßnahmen ergriffen hat, damit Paare ihre Ehe behördlich registrieren lassen müssen.

Die tadschikische Regierung soll das Gesetz gegen häusliche Gewalt dahingehend ändern, dass häusliche Gewalt explizit kriminalisiert wird. Sie soll gewährleisten, dass die Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter Schutzanordnungen erlassen und durchsetzen sowie Fälle häuslicher Gewalt untersuchen und verfolgen. Gegen Beamte, die dies nicht tun, sollen Disziplinarmaßnahmen ergriffen werden.

Darüber hinaus soll die Regierung Notunterkünfte, medizinische, psychosoziale und rechtliche Dienste für Überlebende unterstützen, auch indem sie die Rechtsberatung ausbaut und mehr Frauenhäuser einrichtet. Zudem soll sie die vseleniie-Vorschrift ändern und langfristige Wohnmöglichkeiten für verletzliche Teile der Bevölkerung schaffen, auch für Überlebende häuslicher Gewalt.

Tadschikistans internationale Partner, auch internationale Hilfsorganisationen, sollen Druck auf die Regierung ausüben, häusliche Gewalt zu einem Straftatbestand zu machen. Außerdem sollen sie Notunterkünfte, bezahlbare Langzeitunterkünfte und andere Angebote für Opfer häuslicher Gewalt stärker unterstützen.

„Die tadschikischen Behörden sollen sich darauf konzentrieren, Frauen vor Misshandlung zu schützen. Sie dürfen auf keinen Fall dazu gedrängt werden, in ein gefährliches Umfeld zurückzukehren“, sagt Swerdlow. „Tadschikistan soll alle Fälle häuslicher Gewalt untersuchen und strafrechtlich verfolgen. Zudem muss es Unterkünfte und andere Angebote geben, damit Frauen in Sicherheit leben können.“

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