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(New York) – Die wachsende Zahl von Angriffen durch Aufständische gegen Zivilisten in Afghanistan führt dazu, dass die Familien der Opfer und die Überlebenden dringend bessere finanzielle, medizinische und psychosoziale Unterstützung erhalten müssen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die afghanische Regierung soll dafür sorgen, dass Programme, die die Opfer der Angriffe durch die Taliban und der mit dem sog. Islamischen Staat verbundenen bewaffneten Gruppen unterstützen sollen, die Bedürftigen auch tatsächlich erreichen.

„Aufständische begehen Kriegsverbrechen, wenn sie Bomben in Moscheen oder an belebten Kreuzungen zünden, um möglichst viele zivile Opfer zu treffen, ", sagte Patricia Gossman, Afghanistan-Expertin von Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Die Familien der Opfer und die Überlebenden der Anschläge können möglicherweise ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten und erleiden Verletzungen, die noch lange nach dem jeweiligen Angriff spürbar sind. Die Bemühungen der afghanischen Regierung, diesen Familien zu helfen, sind nicht ausreichend.“

Der 49-seitige Bericht „'No Safe Place': Insurgent Attacks on Civilians in Afghanistan'“ dokumentiert Angriffe der Taliban und der dem Islamischen Staat Khorasan Province (ISKP) angeschlossenen Gruppen seit 2016. Zwar behaupten die Taliban, sie würden nicht direkt auf Zivilisten zielen. Der Bericht dokumentiert jedoch wahllose Angriffe der Taliban, die Tausende getötet und verletzt haben. Gruppen, die mit dem ISKP verbunden sind, haben zivile Einrichtungen in städtischen Gebieten Afghanistans, einschließlich vieler schiitischer Moscheen, angegriffen. Der Bericht, der auf Interviews mit 45 zivilen Opfern von Aufständischen und ihren Angehörigen basiert, zeigt die nachhaltigen Folgen der Angriffe auf betroffene Familien und Gemeinden.

Seit Anfang 2016 haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre Anschläge in Kabul und anderen Großstädten massiv verstärkt und Tausende Zivilisten getötet und verletzt. In Interviews mit Human Rights Watch beschrieben die Angehörige von durch Anschläge getöteten Zivilisten die lawinenartigen negativen Folgen für die betroffenen Familien: die verheerenden finanziellen Folgen für diejenigen, die einen Ernährer verloren haben; die sozialen Folgen, insbesondere für Frauen, die plötzlich verwitwet sind, von Mitgliedern der Familie ihres Mannes abhängig werden und in ihrer Wahl des Wohnorts und des Arbeitsplatzes eingeschränkt sind; und die Auswirkungen auf Kinder, die die Schule verlassen mussten, entweder weil ihre Familie sich die Kosten nicht mehr leisten kann oder weil das Kind arbeiten muss, um das Einkommen der Familie zu ergänzen. Jeder Tod hat Auswirkungen auf das Familiennetzwerk, wobei Ehepartner, Kinder, Eltern und andere Verwandte allgemeine Unterstützung sowie emotionale und soziale Sicherheit verlieren und Einbußen beim Einkommen erleiden.

Viele der von Human Rights Watch Befragten beschrieben zudem schwerwiegende emotionale und psychologische Traumata als Folge solcher Angriffe. Die Eskalation der Angriffe durch Aufständische in den letzten zwei Jahren hat zu mehr Unsicherheit, Gewalt und wachsender wirtschaftlicher Not geführt. Zudem wurden bestehende Traumata und seelisches Leid verschlimmert.

Die afghanische Regierung bietet den Verletzten und den Familien, die durch Angriffe der Aufständischen ein Familienmitglied verloren haben, eine gewisse finanzielle Unterstützung an. Viele der Befragten gaben jedoch an, keine staatliche Unterstützung erhalten zu haben, obwohl ihnen dies zugesagt worden war. Andere sagten, dass das Verfahren, um Hilfe zu erhalten, sehr mühsam oder von Korruption geprägt sei, wobei einige Hilfe erhielten und andere nicht.

Human Rights Watch forderte die Taliban und andere aufständische Gruppen auf, alle gezielten Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte - einschließlich Schulen, Krankenhäuser, Gotteshäuser und Häuser, die nicht für militärische Zwecke genutzt werden - einzustellen. Sie sollten auch alle Angriffe einstellen, bei denen nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterschieden wird oder bei denen zu erwarten ist, dass sie der Zivilbevölkerung unverhältnismäßig schaden. Gleiches gilt für perfide Angriffe, wie die Verwendung eines Krankenwagens zum Verbergen von Bomben. Aufständische Befehlshaber, die schwere Verstöße gegen Kriegsrecht direkt anordnen oder anderweitig für diese verantwortlich sind, sollen zur Rechenschaft gezogen werden.

Die afghanische Regierung hat die völkerrechtliche Verantwortung, das Leben all derer zu schützen, die ihrer Gerichtsbarkeit unterstehen, und diejenigen, die schwere internationale Verbrechen begehen, vor Gericht zu bringen. Sie sollte auch das derzeitige Ad-hoc-System durch eine entsprechende Regulierung oder Gesetzgebung formalisieren oder ein neues Programm zur Unterstützung ziviler Opfer des Konflikts schaffen, einschließlich der Verletzten oder derjenigen, die ein Familienmitglied bei Angriffen durch Aufständische verloren haben.

Die Regierung soll eine Kampagne starten, um die Öffentlichkeit über das Verfahren zur Erlangung von finanzieller Hilfen oder anderer Unterstützung zu informieren. Die Unterstützung soll gerecht verteilt werden. Zudem soll Beschwerden über Korruption und Diskriminierung unverzüglich nachgegangen werden. Auch soll die Regierung Maßnahmen zur psychosozialen Unterstützung von Überlebenden von Anschlägen entwickeln und umsetzen, unabhängig davon, ob es sich hierbei um Angriffe von Aufständischen oder durch die Regierung und alliierte Streitkräfte handelte.

Die internationalen Geber Afghanistans sollen Programme für finanzielle und anderweitige Hilfsleistungen, einschließlich psychosozialer Dienste, für zivile Opfer von Angriffen aller Konfliktparteien unterstützen.

„Opfer von Angriffen durch Aufständische sind mehr als nur Statistiken - sie sind Afghanen, die es verdienen, mit Würde behandelt zu werden und Zugang zu den Hilfsleistungen zu haben, die sie benötigen“, so Gossman. „Die afghanische Regierung und ihre internationalen Geber sollen die Opfer stärker und besser unterstützen.“

Aussagen von Opfern und Angehörigen

„Ich lag unter Staub, Möbelteilen und Fensterglas. Es war schwer für mich zu atmen oder aufzustehen.... Mein Körper, meine Kleidung und sogar meine Schuhe waren voller Blut und ich konnte kaum laufen. Ich sah die Leiche eines Kollegen, Möbelteile, Glas überall. Mir wurde klar, dass ich auf ein Inferno zuging.“
- Hashim (Pseudonym), der beim Lkw-Bombenanschlag im Zentrum von Kabul am 31. Mai 2017 verletzt wurde.

„Ich hörte ein lautes Geräusch - alles wurde dunkel und ich fiel hin. Dann fühlte es sich an, als würde mein Bein brennen. Ein Verwandter von mir hörte mich schreien.... Als ich aufwachte, sah ich, dass sie mein Bein unterhalb des Knies amputiert hatten...ich kann nicht mehr arbeiten und habe finanzielle Probleme..... Es ist eine schlimme Situation.“
- Sardar M., ein Klempner, der beim Angriff der Taliban auf ein Polizeirevier in Kabul am 1. März 2017 verletzt wurde.

„Wir haben unser Familienoberhaupt verloren... Wir sind hilflos. Meine Kinder können jetzt nicht zur Schule gehen, ich kann mir die Schulgebühren nicht leisten.“
- Sugra Hussein, deren Ehemann beim ISKP-Angriff auf die Imam-Zaman-Moschee in Kabul am 20. Oktober 2017 getötet wurde.

„Noch viele Tage danach zog ich mir Glassplitter aus den Füßen. Niemand sollte so etwas erleben! Ich wurde im Krankenhaus behandelt und ging nach Hause, aber es geht mir nicht gut. Mein Mann ist seit einiger Zeit krank, also muss ich arbeiten, aber nun kann ich nicht. Ich brauche psychologische Hilfe.“
- Sima, die beim ISKP-Angriff auf die Jawadiya-Moschee in Herat am 1. August 2017 verletzt wurde.

„Es war wirklich schwer für meine Familie, da ich der einzige Ernährer bin. Ich habe immer noch Granatsplitter im Rücken. Mein Bauch wurde mit 30 Stichen genäht und ich habe noch immer Schmerzen. Ich kann in meinem Laden keine schweren Arbeiten verrichten, also musste ich einen Assistenten einstellen. Es gibt keinen sicheren Ort in Kabul – Man weiß nie, wo der nächste Anschlag verübt wird.“
- Mohammad A., Ladenbesitzer, der den Angriff der Taliban vom 27. Juli 2017 auf einen Shuttle-Bus der Regierung in Kabul überlebt hat.

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