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(London, 13. Mai 2004) – Bei den Gefangenenmisshandlungen in Afghanistan durch das US-Militär und US-Geheimdienste handelt es sich, wie Human Rights Watch heute bekannt gab, nicht um isolierte Einzelfälle, sondern um ein systemisches Problem.

Human Rights Watch rief die Vereinigten Staaten dazu auf, umgehend die Ergebnisse von früheren Untersuchungen zu Verstößen von US-Personal in Afghanistan zu veröffentlichen. Ebenfalls sofort öffentlich bekannt gemacht werden sollten die Umstände, unter denen im Dezember 2002 zwei afghanische Gefangene und im Juni 2003 ein weiterer Häftling in US-Haft ums Leben gekommen sind.

„Wir erhalten seit über einem Jahr Berichte von Afghanen über Misshandlungen in US-Haft,“ erklärt John Sifton, der Afghanistan-Beauftragte von Human Rights Watch. „Wiederholt haben wir die US-Beamte dieses und letztes Jahr auf diese Probleme aufmerksam gemacht. Nun wird es höchste Zeit, dass die Vereinigten Staaten die Ergebnisse ihrer Ermittlungen veröffentlichen, die Verantwortlichen vor Gericht stellen und unabhängige Kontrollen ihrer Militärgefängnisse zulassen.“

In dem im März veröffentlichten Bericht: „Enduring Freedom”: Abuses by U.S. Forces in Afghanistan“, dokumentiert Human Rights Watch zahlreiche Fälle von Misshandlung afghanischer Häftlinge in verschiedenen Gefängnissen in Afghanistan, unter anderem Fälle in denen Gefangene unter extremem Schlafentzug gehalten, eisigen Temperaturen ausgesetzt und brutalst geschlagen wurden. Viele Opfer beklagten auch, sie hätten sich nackt ausziehen und so fotografieren lassen müssen. Einige dieser Missbrauchsmethoden ähneln stark denen, die in letzter Zeit auch aus dem Irak bekannt wurden.

Auch bei der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission (AIHRC), einer autonomen Organisation innerhalb der afghanischen Regierung, sind – vor allem in den Büros im Süden und im Osten des Landes, wo regelmäßig US-Militäroperationen stattfinden – unzählige Beschwerden über Missbrauch durch die US-Truppen in den Jahren 2003 und 2004 eingegangen. Die Kommission hat den US-Behörden ihre Befürchtungen wiederholt mitgeteilt. Auch die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan wurde von örtlichen afghanischen Regierungsvertretern und Beamten über die Vorfälle in Kenntnis gesetzt.

Am 10. Mai verlangte die AIHRC förmlich Zugang zu US-Haftanstalten in Afghanistan. Auch Human Rights Watch hat 2003 und auch 2004 mehrmals in aller Form versucht eine Zutrittsgenehmigung zu bekommen, bisher jedoch nicht einmal eine Antwort erhalten. Am 6. Mai richtete Human Rights Watch eine formelle Bitte an den US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, er möge der Menschenrechtsorganisation den Zugang zu allen von den Vereinigten Staaten unterhaltenen Haftanstalten im Irak, in Afghanistan und auch an anderen noch unbekannten Orten ermöglichen.

„Die Vorfälle zeigen, dass die USA ihre eigenen Gefängnisse nicht unter Kontrolle haben,“ so Sifton. „Deshalb sollte Menschenrechtsgruppen in Afghanistan und auch im Irak zu allen Einrichtungen Zugang gewährt werden.“

Human Rights Watch zufolge steht eine angemessene Erklärung der Todesumstände der drei afghanischen Häftlinge im letzten und vorletzten Jahr noch immer aus. Die beiden im Dezember 2002 zu Tode gekommenen Männer wurden, laut dem Bericht von US-Militärpathologen, auf jeden Fall ermordet. (Für mehr Informationen zu allen drei Todesfällen: Klicken Sie hier)

Sprecher der „Army Criminal Investigative Division“ erklärten Ende 2003 und Anfang 2004 gegenüber Human Rights Watch, die Ermittlungen zu den beiden Morden „dauerten noch an“. Im April jedoch erhielt Human Rights Watch glaubhafte Hinweise darauf, dass vorläufige Ergebnisse in der Sache schon Anfang 2003 feststanden und dass die Verantwortlichen, außer einem Disziplinarverfahren, keine strafrechtlichen Konsequenzen zu erwarten hätten. US-Militärsprecher weigern sich bis heute Human Rights Watch die Umstände des dritten Todesfalls zu erläutern, der sich im Juni 2003 in Asadabad in Ostafghanistan zugetragen hat.

Auch im März diesen Jahres wiederholte Human Rights Watch seine Bitte an die Vereinigten Staaten, die Ermittlungsergebnisse zu den drei Todesfällen zu veröffentlichen – vergeblich. Es kam keine Reaktion.

„Man hat uns in diesem Fall praktisch ignoriert,“ kritisiert Sifton. „Es ist schon weit über ein Jahr her, seit die beiden ersten Opfer ermordet wurden – und das US-Militär will uns weismachen, es sei noch immer am Ermitteln. Jetzt wird es langsam Zeit, dass sie der Öffentlichkeit erklären, was da passiert ist.“

Human Rights Watch verfügt über in Afghanistan eingeholte Zeugenaussagen, die zeigen, dass viele Gefangene während der Anfangszeit ihrer Inhaftierung geschlagen worden sind. Die Anfang 2002 im Flughafen von Kandahar Festgehaltenen berichteten, dass sie nackt ausgezogen, getreten, geschlagen und eisigen Temperaturen ausgesetzt wurden.

Militärsprecher selbst teilten Journalisten und Human Rights Watch mit, dass bestimmte Verhörtaktiken zu den üblichen von Militär- und Geheimdienstpersonal in Afghanistan gehörten. Hierzu zählen sowohl Schlaf- und Sinnesentzug, als auch langes Stehen oder Sitzen in schmerzhaften Positionen.

„Wir wissen jetzt,“ so Sifton, „dass der Missbrauch von Häftlingen als etablierter Teil des Verhörprozesses angesehen wird.“

Von Human Rights Watch gesammelte Zeugenaussagen afghanischer Häftlinge:

S.K. [Name zurückgehalten] berichtete am 11. Februar 2004 von seiner Verhaftung und seinem Lufttransport von Westafghanistan zum Flughafen Kandahar Anfang des Jahres 2002:

[In Westafghanistan:] Die Amerikaner verbanden uns die Augen und – das war das Schlimmste – zogen uns völlig nackt aus und ließen uns in einem kalten Zimmer sitzen, wo wir in der eisigen Luft schlotterten und zitterten...[Während des Flugs nach Kandahar:] Ich war nackt, hatte keine Kleider, während sie mich dorthin verfrachteten...[Bei der Ankunft in Westafghanistan:] Man zog mich aus dem Auto und brachte mich zu einem Flugzeug. Auf dem Flughafen hielt jemand, der ziemlich stark war, meinen Nacken unter seinen Arm und drückte sehr stark zu. Dabei schlug er mir immer wieder mit der Faust fest ins Gesicht. Ein Schlag traf mich so schlimm auf den Mund, dass zwei von meinen Vorderzähnen aus dem Oberkiefer herausbrachen. Das kann man ja jetzt sehen [dem Interviewten fehlen die beiden erwähnten Zähne].

[In Kandahar:] Nach der Landung in Kandahar waren sie sehr grob zu mir. Es war kalt und sie ließen uns länger als eine Stunde draußen in der Wüste liegen. Dann wurden wir von ein paar Armee-Männern rein geholt, wo wir dann von Wachen gnadenlos und völlig ohne Grund zusammengeschlagen wurden. Sie stießen und schlugen uns, vor allem auf den Rücken. [Sie] gaben mir dann später etwas anzuziehen. Sie rasierten uns das Haar, die Bärte und Schnurrbärte ab. Dann holten sie mich zum Verhör und fingen an mich zu schlagen, noch bevor sie überhaupt mit den Fragen angefangen hatten. Einer stemmte mich hoch über seinen Kopf, warf mich auf einen Schreibtisch und ließ mich dort liegen. Zwei oder drei andere stießen mir ihre Knie in den Rücken und die Schultern....Am nächsten Tag musste ich zum Verhör...
Unter uns war auch ein ziemlich alter Mann...auch er wurde misshandelt. Er hat sich bei mir darüber beklagt, dass man ihn während der Verhöre geschlagen hätte. Seine Augen waren blau angelaufen, was mir zeigte, dass er geschlagen worden war. Ums es kurz zu machen: in Kandahar wurde jeder geschlagen. Es war ein schlimmer Ort.

M.S.M. berichtet am 11. Februar 2004 von seiner Verhaftung und seinem Transport von Nordafghanistan zum Flughafen Kandahar, Anfang des Jahres 2002:

[Im Flugzeug nach Kandahar:] Wir waren alle gefesselt und unsere Augen verbunden, so dass wir nichts sehen konnten...wir alle trugen Handschellen und mussten mit gestreckten Beinen dasitzen, die Hände dahinter, und den Körper mussten wir ganz über die Beine beugen. [Zeigt die Position, indem er sich hinkniet und sich über seine Waden und Füße setzt und den Oberkörper nach unten über seine Knie beugt.]

Es war sehr schwer, sich in dieser Stellung zu halten. Wer zur Seite kippte oder sich nur bewegte wurde von den bewaffneten Männern über uns sofort gnadenlos mit ihren Armeestiefeln gestoßen, in den Rücken und die Nieren. Wir alle wurden ausnahmslos geschlagen...Unsere Augen waren geschlossen [verbunden], als wir am Flughafen Kandahar aus dem Hubschrauber kletterten. Ein Mann riss mich am Arm hoch und warf mich die Stufen hinunter, dort musste ich am Boden liegen bleiben, mit dem Gesicht nach oben. Wir durften uns nicht bewegen, wer sich doch bewegte, der bekam eine Tracht Prügel...In Kandahar war es uns auch verboten miteinander zu sprechen – wieder unter Androhung von Schlägen. Schlafen ließen sie uns auch nicht. Wir wurden zum Beispiel wieder aufgeweckt, wenn wir einschliefen, und wer seinen Kopf mit der Bettdecke verhüllte, der wurde brutal geschlagen.

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