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(London, 17. Januar 2012) – Die äthiopische Regierung siedelt im Rahmen ihres „Villagization“-Programms etwa 70.000 Personen indigener Gruppen aus der Gambella-Region im Westen des Landes gegen ihren Willen in neu errichtete Dörfer um. Dort gibt es nicht genug Nahrung und Ackerland, und es fehlen Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Staatliche Sicherheitskräfte haben Dorfbewohner, die sich gegen diese Maßnahmen wehrten, wiederholt bedroht, angegriffen und willkürlich verhaftet.

Der Bericht „‘Waiting Here for Death’: Forced Displacement and ‘Villagization’ in Ethiopia’s Gambella Region“ analysiert das erste Jahr nach Beginn des sogenannten Villagization-Programms in Gambella. Der Bericht enthält detaillierte Informationen über die Zwangsumsiedlungen, den Verlust der Existenzgrundlage der betroffenen Bevölkerung, die Verschärfung der Nahrungssituation sowie die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen durch die Armee. Viele der Gegenden, aus denen die Menschen umgesiedelt werden, werden von der Regierung als Pachtland zur Entwicklung der kommerziellen Landwirtschaft ausgewiesen.

„Die indigene Bevölkerung Gambellas bekommt aus dem staatlichen Villagization-Programm keinen verbesserter Zugang zu öffentlichen Versorgungsleistungen. Vielmehr wird dadurch ihre Existenzgrundlage und Ernährungssicherheit untergraben“, so Jan Egeland, Europa-Direktor von Human Rights Watch. „Die Regierung soll das Programm aussetzen, bis sie die Bereitstellung der erforderlichen Infrastruktur gewährleisten kann, die Menschen angemessen in den Prozess miteinbezogen und für den Verlust ihres Landes entschädigt worden sind.“

Der Regierung zufolge soll das Villagization-Programm der Bevölkerung den „Zugang zu sozioökonomischen Grundinfrastrukturen“ ermöglichen und für „sozioökonomischen und kulturellen Wandel“ sorgen. Doch obwohl die Regierung angemessene Entschädigung zugesagt hat, sind die in den neuen Dörfern zur Verfügung gestellten Ressourcen unzureichend.

Die Menschen in Gambella, mehrheitlich Angehörige der indigenen Anuak und Nuer, hatten das Land, auf dem sie traditionell leben, ihre Tiere halten oder es bewirtschaften, nie formal besessen. Nicht selten behauptet die Regierung, die Gebiete seien „unbesiedelt“ oder würden „nicht ausreichend genutzt“. Dadurch kann sie verfassungsrechtliche Bestimmungen und Gesetze umgehen, die diese Bevölkerungsgruppen vor Umsiedlungen schützen würden.

Der Bericht beruht auf mehr als hundert Interviews, die im Mai und Juni 2011 in Äthiopien und im Flüchtlingslager Ifo im kenianischen Dadaab sowie in Nairobi geführt wurden, wohin viele Menschen aus Gambella geflüchtet waren.

„Mein Vater wurde geschlagen, weil er sich weigerte, mit den anderen Stammesältesten [in das neue Dorf] zu gehen“, so ein ehemaliger Dorfbewohner gegenüber Human Rights Watch. „Er sagte: ‚Ich bin hier geboren, meine Kinder sind hier geboren. Ich bin zu alt für einen Umzug, ich bleibe hier.‘ Er wurde von den Soldaten mit Stöcken und Gewehrkolben geschlagen und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Er starb infolge der Schläge, er wurde einfach immer schwächer.“

Villagization-Programm
Die äthiopische Regierung will bis 2013 insgesamt 1,5 Millionen Menschen in vier Regionen – Gambella, Afar, Somali und Benishangul-Gumuz – umsiedeln. In Gambella haben die Umsiedlungen bereits 2010 begonnen, bis Ende 2011 sollen zirka 70.000 Menschen in neuen Siedlungen untergebracht worden sein. Der Gambella Peoples’ National Regional State Government Plan sieht vor, dass innerhalb des dreijährigen Programms 45.000 Haushalte umgesiedelt werden. Mit diesem Plan verpflichtet sich die Regierung, die neuen Dörfer an die Infrastruktur anzuschließen und den Menschen Hilfestellung zu leisten, um ihnen eine alternative Existenzgrundlage zu ermöglichen. Die Umsiedlungen sollen zudem auf freiwilliger Basis erfolgen.

Aber anstatt einen besseren Zugang zu öffentlichen Versorgungsleistungen zu haben, müssen die Menschen in den neuen Dörfern oftmals gänzlich ohne die entsprechenden Einrichtungen auskommen. Die erste Phase der Zwangsumsiedlungen erfolgte zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt des Jahres, dem Beginn der Erntezeit. Viele Gegenden, in denen die Menschen angesiedelt wurden, sind Trockengebiete mit kargen Böden, die erst geräumt und gerodet werden müssen. Hilfestellung in Form von Saatgut und Düngemitteln erhielten sie nicht. Da die Regierung es versäumte, Nahrungsmittelhilfe zu leisten, kam es in diesen Regionen zu einer Hungerkrise.

Die Untersuchungen von Human Rights Watch haben ergeben, dass die Politik der Zwangsumsiedlung für viele Menschen in der Region die Voraussetzungen für ihr Überleben empfindlich aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Die Existenzgrundlage und die Ernährungssicherheit der Menschen in Gambella sind gefährdet. Viehzüchter sind gezwungen, ihre auf Rinderhaltung beruhende Lebensgrundlage aufzugeben und Ackerbau zu betreiben. Wanderfeldbauern, die über die Jahre von einem Ort zum nächsten weiterziehen, müssen ihre Felder jetzt an einem einzigen Ort bestellen, was dazu führen kann, dass lebensnotwendige Mineralstoffe dem Boden entzogen werden. Ohne eine vernünftige infrastrukturelle Erschließung und die regelmäßige Versorgung mit Nahrungsmitteln können diese Veränderungen für die beiden Bevölkerungsgruppen lebensbedrohliche Folgen haben, so Human Rights Watch.

Der Bewohner eines neu errichteten Dorfes sagte gegenüber Human Rights Watch: „Wir rechnen mit einer großen Hungersnot im kommenden Jahr, weil sie nicht rechtzeitig gerodet haben. Wenn sie [die Regierung] [das Land] gerodet hätte, hätten wir nächstes Jahr etwas zu essen, aber im Moment fehlen uns die Mittel für Nahrung.“

Profitorientierte Landinvestitionen
Das Villagization-Programm findet in Gegenden statt, in denen massive Landinvestitionen geplant sind oder bereits getätigt werden. Die äthiopische Regierung weist Anschuldigungen, wonach die Umsiedlungen in Gambella mit der Verpachtung großer Landflächen für eine kommerzielle Landwirtschaft in Zusammenhang stünden, kategorisch zurück. Von Vertretern der Regierung wurde den Dorfbewohnern jedoch mitgeteilt, dass dies der eigentliche Grund für die Vertreibungen sei. Ehemalige lokale Regierungsvertreter haben diese Vorwürfe gegenüber Human Rights Watch bestätigt.

Ein Bauer berichtete Human Rights Watch, Vertreter der Regierung hätten bei einem ersten Treffen in seinem Dorf gesagt: „Wir werden Investoren für den Anbau von Cash Crops gewinnen. Ihr nutzt den Boden nicht richtig. Er liegt brach.“

„Sie müssen wissen, dass die Regierung uns … zum Sterben … hierher gebracht hat“, so ein Stammesältester gegenüber Human Rights Watch. „Wir möchten, dass die Welt erfährt, dass die Regierung das Volk der Anuak zum Sterben hierher gebracht hat. Wir haben keine Nahrungsmittel erhalten, sie haben unser Land an Ausländer vergeben, wir können noch nicht einmal dorthin zurück. Überall wird Land weggegeben, wir werden also alle hier sterben.“

Massenumsiedlungen, die zum Zweck der kommerziellen landwirtschaftlichen Nutzung erfolgen und ohne ordnungsgemäße rechtliche Verfahren durchgeführt werden, verstoßen gegen die äthiopische Verfassung und gegen die im Völkerrecht verankerten Rechte indigener Völker.

Von 2008 bis Januar 2011 hat Äthiopien mindestens 3,6 Millionen Hektar Land verpachtet, eine Fläche, die der Größe der Niederlande entspricht. Weitere 2,1 Millionen Hektar Land stehen über die staatliche Land Bank for Agricultural Investment zur Verfügung. Regierungsangaben zufolge werden in Gambella 42 Prozent der gesamten Landfläche entweder Investoren zur Verpachtung angeboten oder wurden bereits an Investoren vergeben. Viele Gegenden, aus denen die Menschen umgesiedelt wurden, sind für kommerzielle Agrarinvestitionen vorgesehen.

„Das Villagization-Programm wird genau in den Gegenden Äthiopiens durchgeführt, die von der Regierung an ausländische Investoren für große kommerzielle Landwirtschaftsbetriebe verpachtet werden“, so Egeland. „Das lässt auf die eigentlichen Motive des Villagization-Programms schließen.“

Rolle der ausländischen Geber
Ausländische Geber, unter anderem Großbritannien, die Vereinigten Staaten, die Weltbank und die Europäische Union, behaupten, sie seien an den Villagization-Programmen nicht unmittelbar beteiligt. Das von mehreren Gebern finanzierte Programm zur Sicherstellung grundlegender Versorgungsleistungen bezuschusst Versorgungsleistungen wie Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft, Straßen und Wasser sowie die Gehälter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst in allen Bezirken des Landes, einschließlich in den Gebieten, in denen neue Dörfer errichtet werden und die Hauptbeschäftigung der Kommunen darin besteht, die Menschen umzusiedeln.

Aufgrund der sich daraus ergebenden Verantwortung und Verpflichtungen ließen die Geber das Villagization-Programm in Gambella und Benishangul-Gumuz überprüfen und kamen zu dem Schluss, dass die Umsiedlungen auf freiwilliger Basis stattfinden. Die Untersuchungen und Interviews von Human Rights Watch mit den Bewohnern vor Ort ergaben jedoch, dass die Umsiedlungen erzwungen sind.

Internationale Geber sollen sicherstellen, dass sie mit ihren Geldern keine Zwangsumsiedlungen unterstützen oder im Namen der Entwicklung Menschenrechtsverletzungen Vorschub leisten, so Human Rights Watch. Sie sollen Äthiopien dazu drängen, seinen Verpflichtungen nach nationalem und internationalem Recht nachzukommen. Insbesondere soll Äthiopien die Betroffenen in den Villagization-Prozess miteinbeziehen und sicherstellen, dass die Umsiedlung der indigenen Gruppen auf freiwilliger Basis erfolgt. Zudem soll Äthiopien die Betroffenen angemessen entschädigen, Menschenrechtsverletzungen während und nach den Umsiedlungen verhindern und diejenigen, die an solchen beteiligt waren, zur Rechenschaft ziehen. Die Geber sollen zudem dafür Sorge tragen, dass die Regierung ihrer Verpflichtung nachkommt, die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Menschen in den neuen Dörfern zu respektieren, zu schützen und umzusetzen.

„Offenbar fließen die Gebergelder direkt oder indirekt in die Finanzierung des Villagization-Programms“, so Egeland. „Es liegt in der Verantwortung der Geber, sicherzustellen, dass ihre Hilfe Zwangsumsiedlungen und den damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen keinen Vorschub leistet.“

Stimmen aus dem Bericht „Waiting Here for Death“
„Es hieß: Wenn sich jemand weigert, wird die Regierung eingreifen. Also gingen die Leute in das neue Dorf – gegen ihren Willen.“
–Dorfbewohner im Abobo-Woreda (Bezirk), Mai 2011

„Die Bauern aus unserem Woreda wollten nicht gehen. Der Bezirk machte Meldung an die Region, dass die Bauern sich weigerten. Der Gouverneur bat den Bezirksvorsitzenden, die Lage zu eruieren. Er antwortete dem Gouverneur: Ja, sie weigern sich. Was sollen wir tun? Der Gouverneur befahl ihm, fünf Entwicklungsbeauftragte vom Dienst zu suspendieren, und sagte, er würde Soldaten schicken. Genau das ist passiert.“
–Ehemaliger Bezirksbeamter, Juni 2011

„Die Regierung lässt unser Volk verhungern. Es ist besser, uns alle zusammen anzugreifen, als hier einfach nur auf den Tod zu warten. Bei einem Angriff könnten einige davonlaufen und einige könnten überleben. Aber so sterben wir hier mit unseren Kindern. Wer für die Regierung arbeitet, bekommt einen Lohn, aber wir warten hier einfach nur auf den Tod.“
–Stammesältester in einem vor kurzem neu errichteten Dorf, Abobo-Woreda, Mai 2011

„Das Ganze hat Auswirkungen auf die Psyche der Kinder. Sie lernen nichts mehr. Im alten Dorf gab es eine Schule, hier nicht. Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule, sie haben Angst. Wer beschützt sie, wenn sie in das alte Dorf gehen? Sogar die Kinder weigern sich, dorthin zu gehen.“
–Anuak-Frau aus einem neu errichteten Dorf über die versprochene, aber nicht vorhandene Schule im Abobo-Woreda, Mai 2011

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