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Sara, 26, und Hassan, 24, beide aus Syrien, sitzen auf dem Boden im Wald in Lewosze, Polen, nachdem sie die Grenze von Belarus aus überquert haben, 29. Oktober 2021. © 2021 REUTERS/Kacper Pempel

(Brüssel) - Die Unterstützung der Europäischen Union für menschenrechtsverletzende Regierungen, die Migrant*innen und Asylsuchende fernhalten wollen, zeigte 2021 deutlich die Diskrepanz zwischen der Menschenrechtsrhetorik der EU und ihrer tatsächlichen Praxis, so Human Rights Watch heute in seinem World Report 2022. Paradebeispiele hierfür sind die Militarisierung und der humanitäre Notstand an der belarussisch-polnischen Grenze und die Pushbacks an anderen EU-Außengrenzen.

„Wir erleben oft, dass das Engagement der Europäischen Union für die Menschenrechte schwächelt, wenn es hart auf hart kommt“, sagte Benjamin Ward, stellvertretender Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „In einer Zeit, in der Menschen leiden und ihre Rechte innerhalb und außerhalb der EU-Grenzen bedroht sind, brauchen wir eine EU, die bereit ist, für die Menschen einzutreten.“

Im 752-seitigen World Report 2022, der 32. Ausgabe, untersucht Human Rights Watch die Menschenrechtslage in fast 100 Ländern. Executive Director Kenneth Roth stellt die gängige Meinung in Frage, dass Autokratie auf dem Vormarsch ist. In einem Land nach dem anderen sind zuletzt viele Menschen auf die Straßen gezogen, selbst auf die Gefahr hin, verhaftet oder erschossen zu werden. Das zeigt, dass Demokratie nicht an Reiz verloren hat. Gleichzeitig wird es für Autokraten immer schwieriger, Wahlen zu ihren Gunsten zu manipulieren. Dennoch, so Roth, müssen demokratische Führungsfiguren bessere Arbeit leisten, um die nationalen und globalen Herausforderungen zu bewältigen und sicherzustellen, dass die Demokratie einhält, was sie verspricht.

Human Rights Watch wies auf EU-weite Probleme in den Bereichen Migration und Asyl, Diskriminierung und Intoleranz, Armut und Ungleichheit, Rechtsstaatlichkeit und EU-Außenpolitik hin. Der World Report enthält Kapitel zu Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Italien, Polen und Spanien sowie zu Nicht-EU-Ländern in der Region wie Bosnien und Herzegowina, Serbien, Kosovo und Großbritannien.

Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit hat im Laufe des Jahres in einer Reihe von EU-Ländern nachgelassen. Polen und Ungarn standen wegen Angriffen auf die Rechte von LGBT-Personen, die Unabhängigkeit der Justiz und die Medienfreiheit, die Rechte von Frauen und zivilgesellschaftlichen Gruppen, darunter auch Frauenrechtsaktivist*innen, weiterhin unter Beobachtung. Es gab Anzeichen für eine stärkere Reaktion einiger EU-Institutionen auf die Situation in Ungarn und Polen, darunter auch Urteile des EU-Gerichtshofs.

Die EU-Mitgliedstaaten kritisierten die Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit und die demokratischen Institutionen innerhalb der EU zwar mit schärferen Worten, konnten aber keine entschlossenen Maßnahmen im Rahmen des in den EU-Verträgen vorgesehenen Verfahrens nach Artikel 7 ergreifen oder die Systeme vollständig aktivieren, um den Erhalt von Finanzmitteln von der Einhaltung der EU-Grundsätze abhängig zu machen.

Die EU-Länder haben kaum Fortschritte bei der Entwicklung einer die Menschenrechte achtenden Migrationspolitik oder bei der gerechten Aufteilung der Verantwortung für Migrant*innen, Asylbewerber*innen und Geflüchtete gemacht und zeigen lediglich einen Konsens bei der Abschottung der Grenzen und der Externalisierung der Verantwortung auf Kosten der Menschenrechte. Obwohl die EU-Länder im August Tausende von Afghan*innen aus Kabul evakuierten, machten sie Zusagen zur Neuansiedlung, die nicht dem Bedarf entsprachen, und arbeiteten weiterhin mit Ländern wie Libyen zusammen, obwohl es Beweise für schwere Misshandlungen von Migrant*innen und Geflüchteten gibt. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex wehrt sich gegen Forderungen nach einer Rechenschaftspflicht, obwohl sich die Beweise für Übergriffe und die Unterlassung von entsprechenden Ermittlungen häufen.

Kroatien, Griechenland, Zypern, Ungarn, Slowenien, Spanien, Litauen, Lettland und Polen waren an Pushbacks beteiligt, wobei die letzteren drei Länder ihre nationalen Gesetze geändert haben, um diese rechtswidrigen Praktiken abzusichern. Dänemark verabschiedete ein Gesetz, das es erlaubt, Asylbewerber*innen zur Prüfung ihres Antrags in ein anderes Land zu schicken, und schuf einen gefährlichen Präzedenzfall, indem es Menschen aus bzw. aus der Nähe von Damaskus den Status des „vorübergehenden Schutzes“ entzog. Die französischen Behörden haben Migrant*innen an der britisch-französischen Grenze in einer fehlgeleiteten Politik zur Abschreckung ankommender Menschen in Nordfrankreich erniedrigend behandelt. Gruppen, die sich unter anderem in Griechenland, Italien und Zypern für die Rechte von Migrant*innen und Geflüchteten einsetzen, sahen sich einem feindseligen Umfeld ausgesetzt und wurden sogar strafrechtlich verfolgt.

Die staatlichen Reaktionen auf Rassismus, Gewalt und Diskriminierung, von denen Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten, LGBT-Personen und Menschen mit Behinderungen betroffen waren, waren oft unzureichend und verschärften in einigen Fällen die Menschenrechtsverletzungen. Die Covid-19-Pandemie förderte Diskriminierung und Hassverbrechen, darunter Hassreden im Internet, die sich gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen richten. Die EU-Grundrechteagentur und der Menschenrechtskommissar des Europarats erklärten, dass die EU-Länder gegen strukturelle Diskriminierung, einschließlich der Erstellung von ethnischen Profilen durch die Polizei, vorgehen sollten. Positiv zu vermerken ist, dass die Europäische Kommission eine Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bis 2030 verabschiedet hat.

Die Covid-19-Pandemie verschärfte die große Ungleichheit und Armut in der Europäischen Union, obwohl die EU ein umfangreiches Konjunkturprogramm mit Mitteln zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und Maßnahmen zur Milderung der Folgen in den einzelnen Ländern bereitgestellt hat. Offiziellen Schätzungen zufolge war etwa ein Fünftel der EU-Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Hilfsorganisationen wie die Tafel wurden stärker in Anspruch genommen und Kinderarmut nahm zu, die Maßnahmen zum Ausgleich der steigenden Energiekosten schienen unzureichend. Roma waren weiterhin einem unverhältnismäßig hohen Risiko ausgesetzt, in Armut und sozialer Ausgrenzung leben zu müssen.

Die EU behinderte entscheidende Maßnahmen zur Beendigung der Covid-19-Pandemie, indem sie sich Vorschlägen widersetzte, Patent- und Handelsregelungen vorübergehend auszusetzen, die die weltweite Produktion und Verfügbarkeit von Tests, Behandlungen und Impfstoffen gegen Covid-19 erleichtern könnten.

Die Europäische Kommission verabschiedete im Juli Legislativvorschläge zum Erreichen der Klimaneutralität bis 2050, darunter eine 55-prozentige Emissionsreduzierung bis 2030, doch das Europäische Parlament stimmte für eine Verlängerung der Gassubventionen bis 2027 und untergrub damit diese Bemühungen. Die 27 Mitglieder der EU gehören zusammen zu den zehn größten Treibhausgasemittenten weltweit und tragen damit zur weltweiten Klimakrise bei.

Die EU und mehrere Staaten spielten weiterhin eine führende Rolle bei UN-Initiativen im Zusammenhang mit den Menschenrechten in Ländern wie Afghanistan, Belarus, Sudan, Äthiopien, Syrien, Sri Lanka, Myanmar, Nicaragua und Nordkorea sowie beim Klimawandel. Die Einstimmigkeitsregel der EU in der Außenpolitik verhinderte jedoch häufig ein entschlossenes Vorgehen gegen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen oder sogar deren Anprangerung, vor allem in Bezug auf Länder wie Ägypten, Israel, die Golfstaaten und Indien.

Kritische Äußerungen zur jeweiligen Menschenrechtssituation wurden häufig nur im Rahmen bilateraler Treffen gemacht. Es ist höchst fraglich, ob die in der Lage sind, positive Veränderungen voranzutreiben. Auf Drängen des Europäischen Parlaments arbeitet die EU an einer Gesetzgebung für eine obligatorische menschenrechtliche und ökologische Sorgfaltspflicht für Unternehmen. Außerdem reformiert die EU ihr Allgemeines Präferenzsystem (APS), das Drittländern einen präferenziellen Zugang zum EU-Markt gewährt, der an verschiedene menschenrechtliche Bedingungen geknüpft ist.

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