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Die Staats- und Regierungschefs der EU werden in der kommenden Woche erneut über die Flüchtlingskrise diskutieren. Die enorme Not und die hohe Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa drängen, erfordert von den europäischen Politikern etwas, was sie normalerweise nicht gerne tun: Sie müssen über ihren eigenen Schatten springen. Sie müssen ihre Wähler davon überzeugen, dass Flüchtlinge keine Last sind, sondern Menschen, die Schutz brauchen, die Namen und Rechte haben, die mit Respekt behandelt werden sollten. Außerdem müssen die Politiker der EU bei der Verteilung der Hilfesuchenden nationale Egoismen aufgeben. Schaffen sie das?

Die Flucht der Verzweifelten über das Mittelmeer nach Europa ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Lange haben die EU-Politiker versucht, die wirkliche Dimension der Flüchtlingskrise zu verdrängen. Die Katastrophe vom 19. April 2015, als 200 Kilometer vor Lampedusa 800 Menschen auf einen Schlag ertranken, war ein Weckruf. Eine Rettungsaktion begann, ähnlich weitreichend wie die zuvor unnötigerweise gestoppte italienische Operation Mare Nostrum.

Europa sollte jetzt wahre Größe zeigen. Es muss die Geretteten aufnehmen und den politisch Verfolgten und vor Krieg und Gewalt Geflohenen Schutz gewähren. Europa sollte aber auch denjenigen mit Würde begegnen, die aus wirtschaftlicher Not die gefährliche Flucht angetreten haben. Auch diese despektierlich als "Wirtschaftsflüchtlinge" Verpönten haben Elend erlebt und besitzen Rechte.

Doch unsere Politiker fangen schon wieder an zu schachern und in nackten Zahlen zu denken. Allen voran Großbritannien, Polen und Tschechien torpedieren den Versuch der Europäischen Kommission, die Flüchtlinge gerechter als bislang zu verteilen und damit für menschlichere Lebensbedingungen zu sorgen und den überforderten Ländern Italien, Griechenland und Malta zu helfen.

Ein bescheidener Vorschlag

Auch Innenminister Thomas de Maizière hat angefangen zu rechnen und fordert, die in Deutschland schon aufgenommenen Flüchtlinge bei der künftigen Verteilung mit einzubeziehen. Das ist nicht nur kleinlich, es ist auch höchst ungeschickt. Ja, Deutschland hat mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere EU-Land nördlich der Alpen. Aber gemessen an den 80 Millionen Deutschen sind es sehr viel weniger als im Vergleich etwa zu Schweden oder Dänemark. Kleinkrämerei und Heuchelei können wir uns nicht mehr leisten.

Was die Europäische Kommission vorschlägt, ist sehr bescheiden: die Aufnahme von 20.000 anerkannten Flüchtlingen, hauptsächlich Syrer,  im Zeitraum von zwei Jahren. Das sind gerade mal 0,004 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung und geradezu beschämend wenig angesichts der Millionen, die in Jordanien, im Libanon und in der Türkei Zuflucht gefunden haben.

Außer einer zahlenmäßig großzügigeren Aufnahme und einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge sollte die EU auch dringend die Familienzusammenführung und die Vergabe humanitärer Visa erleichtern. Dann nämlich könnten Flüchtlinge auf sicheren Wegen und ganz legal nach Europa einreisen, ohne in die Arme von Menschenschmugglern getrieben zu werden, mit all den schrecklichen Gefahren, die solch eine Flucht birgt. Dies wäre eine effektive und menschliche Art, den Schleppern mit ihren schwimmenden Särgen das Handwerk zu legen.

Fluchtursachen zu bekämpfen hilft jetzt nicht

Im Sinne einer humanen Flüchtlingspolitik sollten sich die EU und ihre Mitglieder zudem in den Ursprungs- und Transitländern stark machen für die Einhaltung der menschenrechtlichen Verpflichtungen. Sie müssen verhindern, dass Migranten in Ländern wie Ägypten oder Libyen in der Falle sitzen oder gar dorthin abgeschoben werden, woher sie geflohen sind, und damit größter Lebensgefahr ausgesetzt werden. Langfristig kann nur die globale Einhaltung der Menschenrechte verhindern, dass Menschen fliehen – das ist eine Binsenweisheit. Aber diese Erkenntnis rettet die Menschen jetzt nicht. Sie brauchen jetzt Hilfe! Politiker nehmen aber gerne die Herkunftsländer in die Pflicht, wenn ihnen sonst nichts mehr einfällt. Es sind übrigens oft solche, die es mit der Einforderung der Menschenrechte sonst nicht so genau nehmen.

Auf ihrem Gipfel kommende Woche wollen die EU-Chefs eine Strategie zur Lösung der Flüchtlingskrise im Mittelmeer beschließen. Dies ist ein entscheidender Wendepunkt für die EU. Sie hat die Möglichkeit, der Welt zu zeigen, dass sie mit Menschlichkeit und Solidarität auf die Flüchtlingskrise an ihren Grenzen reagiert. Deutschland nimmt dabei eine entscheidende  Rolle ein. Die EU-Chefs sollten nicht vergessen, dass die völker- und menschenrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz von Flüchtlingen besonders dann von großer Bedeutung sind, wenn sie in einer schwierigen Situation gegen populistische Widerstände in der eigenen Bevölkerung umgesetzt werden müssen. Jetzt ist ein solcher Moment.

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