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Die Ergebnisse der Wahlen zum EU-Parlament im Mai haben gezeigt, wie unzufrieden die Wähler mit der EU sind. Europaskeptische Parteien holten in Frankreich, Großbritannien und Dänemark die Mehrheit der Stimmen und verzeichneten in Deutschland, Italien, Schweden, den Niederlanden und andernorts erhebliche Zugewinne. Dieser Pessimismus birgt auch große Risiken für den Schutz der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit.

Seit Verabschiedung des Vertrags von Lissabon wächst die Einsicht, dass die Werte, auf die sich die Union gründen möchte, geschützt werden müssen, um Bedeutung zu haben. Heute haben wir eine Grundrechtecharta und eine Grundrechteagentur. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stützt sich in seinen Urteilen auf die Menschenrechte, die EU-Kommission hat ihren eigenen Menschenrechtskommissar und auch das Parlament interessiert sich verstärkt für Menschenrechtsverletzungen.

Doch diese Maßnahmen reichen nicht aus. Die Kommission vermeidet es, in Menschenrechtsfragen Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Wenn es um Probleme in einzelnen Mitgliedsstaaten geht, wird das Parlament allzu oft durch parteipolitische Instinkte gelähmt. Auch der Grundrechteagentur fehlt die Befugnis, konkretes Handeln anzuordnen. Am zurückhaltendsten zeigt sich jedoch der Rat. Zwar ist es zu begrüßen, dass sich der Ministerrat für Justiz und Inneres kürzlich hinter die Idee einer Strategie zum Schutz der Grundrechte innerhalb der EU stellte. Die Arbeitsgruppe für Grundrechte verlor sich jedoch bis jetzt weitgehend in Formalien.

Dass der Grundrechtsschutz nicht ausreichend verfolgt wird, zeigte in den letzten Jahren vor allem der Fall Ungarns. Dort nutzte die Regierung ihre erste Amtszeit dank einer Zweidrittelmehrheit im Parlament zur Einführung einer neuen Verfassung und zur Schwächung der Kontrolle der Exekutive. Der aktuelle Druck auf Nichtregierungsorganisationen und Medien lässt für die zweite Legislaturperiode Ähnliches erwarten.

Die Kommission ergriff rechtliche Schritte und der Europäische Gerichtshof zwang Budapest, bei der geplanten Zwangspensionierung von Richtern einzulenken. Das Urteil hatte jedoch eher Symbolcharakter, da die meisten Richter bereits ausgetauscht worden waren. Auch ein äußerst deutlicher Bericht des EU-Parlaments zu Ungarn hatte keine handfesten Maßnahmen zur Folge.

Angesichts der strukturellen Probleme wäre ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags angemessen gewesen, welches bei einem drohenden schweren Verstoß gegen die Grundwerte der EU zum Tragen kommen sollte. Doch sowohl der Rat als auch große Teile der Kommission zögerten, ein Verfahren einzuleiten, das letzten Endes zur Aufhebung von Ungarns Stimmrechten hätte führen können. Unter dem Eindruck dieser schwachen Reaktion auf die Verfassungskrise in Ungarn forderten die Außenminister von Deutschland, den Niederlanden, Dänemark und Finnland im März 2013 ein ambitionierteres Eintreten der EU zum Schutz der Menschenrechte im Innern. Die Antwort der Kommission, eine Mitteilung an Parlament und Rat zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, ist ein bescheidener Schritt, der bei neuen Krisen hilfreich sein könnte, jedoch chronische Menschenrechtsverletzungen in der gesamten Union unbeachtet lässt.

Es bleibt zu befürchten, dass die Wahlergebnisse die Dynamik für einen stärkeren Menschenrechtsschutz durch die EU bremsen. Die Mitgliedsstaaten könnten zu dem Schluss kommen, ihre Wähler wünschten sich eine passivere EU, und sich aus den aktuellen Bemühungen zurückziehen - Grundrechtsstrategie hin oder her. Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass es der Mitteilung der Kommission an Rückhalt fehlt. Aus Angst vor weiteren Rückschlägen könnte wiederum die Kommission vor entschiedenen Maßnahmen zurückschrecken. Auch das Parlament droht sich aus seiner Unterstützung für eine aktivere EU zurückzuziehen.

Dies wäre ein fataler Fehler. Denn eine stärkere Rolle der EU beim Schutz der Menschenrechte ist geeignet, um die öffentliche Unterstützung für die Union und ihre Werte zu festigen. Dafür wären die Führungsqualitäten der EU-Regierungen und klare Signale von Seiten der EU-Institutionen nötig. Die Vision einer Union, die die Rechte aller Menschen, die in ihrem Innern leben, schützt, wäre ein starkes Argument gegen die These, Europa sei eine tote Idee.

Benjamin Ward ist stellvertretender Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch.

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