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Ungarn: Häusliche Gewalt tief verankert

Verstärkter Einsatz der Polizei und mehr Plätze in Schutzeinrichtungen nötig

(Budapest) – Die Untätigkeit der Polizei, ineffiziente einstweilige Verfügungen, mangelnde Kapazitäten in Schutzeinrichtungen und große Lücken in der Politik und Gesetzgebung setzen Frauen, die in Ungarn Opfer häuslicher Gewalt werden, dem Risiko weiterer Misshandlung aus, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 58-seitige Bericht “Unless Blood Flows: Lack of Protection from Domestic Violence in Hungary” dokumentiert die anhaltende, brutale häusliche Gewalt gegenüber Frauen durch ihre Partner sowie die Herausforderungen, vor denen die Frauen bei der Suche nach Schutz und Hilfe durch den Staat gestellt werden. Der Bericht dokumentiert zudem die - trotz einer kürzlich auf den Weg gebrachten Reform - existierenden Lücken in Ungarns Politik und Gesetzgebung, wenn es um häusliche Gewalt geht. Auch das Versagen der Behörden beim angemessenen Schutz von Frauen, die Opfer solcher Gewalt werden, wird in dem Bericht geschildert.

„Ungarns System zum Umgang mit häuslicher Gewalt funktioniert einfach nicht“, so Lydia Gall, Osteuropa- und Balkan-Expertin von Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Genau die Menschen, die eigentlich helfen sollten – Polizisten, Ärzte, Strafverfolger und Sozialarbeiter – lassen den Opfern häufig keine andere Wahl, als zu ihren Peinigern zurückzukehren. Dort sind sie dann weiterer Gewalt ausgeliefert.”

Grundlage des Berichts sind Interviews mit insgesamt 29 Frauen aus ganz Ungarn, die noch vor den Mitte 2013 eingeführten Reformen Schutz vor ihren gewalttätigen Partnern gesucht hatten. Diesen Schutz hofften sie, bei Anwälten, Richtern, Frauenrechtsorganisationen, Regierungsbeamten und anderen Experten zu finden. Human Rights Watch hat auch vier Frauen nach dem Inkrafttreten der Reformen 2013 interviewt. Deren Aussagen sind nicht Teil des Berichts.

Human Rights Watch hat mit Frauen gesprochen, die Opfer von Angriffen mit Messern, Äxten und Schwertern wurden, denen in den Unterleib geboxt oder getreten wurde, während sie schwanger waren, die vergewaltigt wurden, die mit Stöcken, Kinderwagen, Eisenstangen und dicken Kabeln verprügelt wurden und die dabei Schädelfrakturen erlitten. Auch wurden die Opfer im Winter ohne Kleidung in Schuppen gesperrt, von Balkonen gestoßen, mitten in der Nacht in abgelegenen Gegenden zurückgelassen und waren schwerster psychologischer Gewalt ausgesetzt.

Ungarn hat klare internationale Verpflichtungen, mit der gebührenden Sorgfalt die Rechte von Frauen auf ein Leben frei von Gewalt und Diskriminierung zu schützen. Zudem muss ein effektiver Zugang zu Rechtsmitteln gewährleistet werden. Um diesen Verpflichtungen nachzukommen, soll die ungarische Regierung das Gesetz von 2009 über einstweilige Verfügungen und die strafrechtlichen Vorschriften zu häuslicher Gewalt so abändern, dass sie auf alle Frauen anwendbar sind und derzeitige Unzulänglichkeiten von Richtlinien und Praktiken beseitigt werden, so Human Rights Watch.

Ungarn soll die Schulung von Polizisten, Strafverfolgern, Richtern, Sozialarbeitern und Ärzten verbessern. Auch müssen die Kapazitäten von Einrichtungen für Opfer häuslicher Gewalt erhöht werden. Zudem soll Ungarn das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ratifizieren.

Bis zum 1. Juli 2013 stellte häusliche Gewalt in Ungarn nicht einmal einen Straftatbestand dar. Fälle von häuslicher Gewalt wurden wie jede andere Art von Gewalt gehandhabt und je nach Schwere der entstandenen Verletzungen in bestimmte Kategorien eingeordnet. Hierbei galten Verletzungen, die innerhalb von acht Tagen verheilen, als geringfügig. In solchen Fällen musste das Opfer, und nicht etwa die Polizei oder die Staatsanwaltschaft, rechtliche Schritte einleiten.

Der im Juli eingeführte Straftatbestand der häuslichen Gewalt sieht schärfere Strafen bei Übergriffen im häuslichen Umfeld vor. Es liegt nun in der Verantwortung der Strafverfolger, und nicht in der des Opfers, strafrechtliche Maßnahmen gegen den Täter einzuleiten. Allerdings bietet die neue Vorschrift den Opfern nur dann Schutz, wenn es zu mindestens zwei separaten Fällen von häuslicher Gewalt kam. Auch bietet die Vorschrift keinen Schutz für jene Frauen, die nicht mit ihrem gewalttätigen Partner zusammenleben, es sei denn sie haben gemeinsame Kinder.

Der neue Straftatbestand allein ist jedoch keine Lösung für die systematischen Probleme, die Human Rights Watch identifiziert hat. Interviews, die mit vier Frauen geführt wurden, die nach dem 1. Juli Opfer häuslicher Gewalt wurden, legen nah, dass sich in der Praxis nur wenig geändert hat. Diese Frauen berichteten uns von der Untätigkeit seitens der Polizei. Suchten sie Schutz bei Ärzten und Sozialarbeitern, so machten diese bisweilen die Frauen selbst, und nicht die gewalttätigen Partner, für die Übergriffe verantwortlich.

Human Rights Watch fand heraus, dass die Polizei Frauen häufig nicht dazu ermutigt, die häuslichen Übergriffe anzuzeigen, und ihre Autorität nicht effizient einsetzt, um einstweilige Verfügungen gemäß dem Gesetz von 2009 zu erlassen. Stattdessen erwartet die Polizei, dass die Opfer selbst die Erlassung einer solchen Verfügung beantragen. Hierbei werden die Opfer manchmal sogar in Anwesenheit des gewalttätigen Partners gefragt, ob sie eine solche Verfügung beantragen möchten. Dies führt dazu, dass viele Opfer aus Angst auf einen solchen Antrag verzichten.

Zsuzsa, 37, war 14 Jahre lang Opfer häuslicher Gewalt. Gegenüber Human Rights Watch sagte sie, dass sie im August die Polizei gerufen hatte, nachdem ihr Mann sie geschubst und ihr eine spitze Waffe an die Kehle gehalten hatte.

„Als die Polizei kam, erklärte mein Mann ihnen ruhig, dass nichts vorgefallen sei”, so Zsuzsa. „Ich traute mich nicht, etwas zu sagen, aber die Polizisten erklärten mir, dass sie nur etwas tun könnten, wenn Blut fließt. Warum gibt es sie [die Polizei] überhaupt, wenn sie doch nichts tun kann?”

Human Rights Watch hat mit Frauen gesprochen, die von nachlässigen und sogar feindseligen Reaktionen der Polizei berichteten. So wurde den Frauen u.a. zum Vorwurf gemacht, bei ihrem gewalttätigen Partner geblieben zu sein. Auch wurde der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen angezweifelt und es wurde damit gedroht, Anzeige gegen die jeweils Betroffene wegen Kindeswohlgefährdung zu erstatten, da sie es ja „zulasse”, von ihrem Partner misshandelt zu werden.

Human Rights Watch stellte zudem fest, dass auch die Gerichte Frauen nur unzureichend schützen. So sind die Anforderungen für die Erbringung von Beweisen häufig zu hoch angesetzt, als dass eine einstweilige Verfügung erwirkt werden könnte. Wird eine solche letztendlich erwirkt, so gilt sie häufig nur für kurze Zeit. Oft wird eine solche Verfügung aufgrund der Abwesenheit des Täters nicht erlassen, obwohl dies laut Gesetz durchaus zulässig wäre. Nachlässige und abweisende Polizeireaktionen können ein Grund für die niedrige Anzahl von Fällen häuslicher Gewalt sein, in denen eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Fehlende Richtlinien für Strafverfolger spielen hierbei jedoch auch eine Rolle, so Human Rights Watch.

Ärzte und Sozialarbeiter bieten Frauen häufig nicht den angemessenen Rat und Schutz. Es gibt keine landesweit geltenden Richtlinien, wie Ärzte auf Verdachtsfälle häuslicher Gewalt reagieren sollen. In einigen Fällen berichteten die Frauen und Mitarbeiter von Opfereinrichtungen, dass Ärzte die Misshandlungen nicht angemessen dokumentiert hätten, was die Bemühungen, eine Strafverfolgung zu erwirken, erschwert habe. In einigen Fällen hätten die Ärzte nur widerwillig Informationen zur Verfügung gestellt oder die Betroffenen gefragt, ob sie Anzeige erstatten wollten.

Anstatt sie zu unterstützen, macht die Kinderfürsorge die Situation für die Betroffenen häufig noch schlimmer. Obwohl Human Rights Watch keine Fälle dokumentiert hat, in denen eine Frau aufgrund von häuslicher Gewalt das Sorgerecht für ihr Kind oder ihre Kinder verloren hat oder die Kinder unter Vormundschaft gestellt wurden, so gaben dennoch acht Frauen aufgrund ihrer früheren Erfahrungen mit den Behörden an, die Übergriffe nicht gemeldet zu haben, aus Angst, diese würden ihnen die Kinder wegnehmen. Drei Frauen gaben sogar an, dass die Kinderfürsorge ihnen aufgrund der häuslichen Gewalt gedroht habe, ihnen die Kinder wegzunehmen.

„Ich wurde in das Büro der Kinderfürsorge zitiert. Sie sagten mir, dass sie mir die Kinder wegnehmen würden, sollte mein Mann sein Verhalten nicht ändern oder ich ihn verlassen”, so Virág, eine Mutter von drei Kindern, die aus einem kleinen Dorf kommt. „Ab da wusste mein Mann, dass er einfach alles machen konnte, da ich aus Angst vor den Behörden nicht die Polizei rufen würde.”

Opfereinrichtungen sind ein wesentlicher Bestandteil des Schutzes für jene, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. In ganz Ungarn gibt es jedoch insgesamt nur 122 Plätze in solchen Einrichtungen, von denen wiederum nur 28 in Einrichtungen zur Verfügung stehen, die auf Opfer häuslicher Gewalt spezialisiert sind. Um internationalen Standards zu entsprechen, sollten mindestens 1.000 Plätze vorhanden sein. Die Frauen können in den Einrichtungen höchstens 60 Tage lang Zuflucht finden. Nur Frauen mit Kindern dürfen sich um einen weiteren Aufenthalt in einer Einrichtung bemühen, in der Opfer länger unterkommen können.

Ohne eigenes Einkommen oder eine Zufluchtsmöglichkeit, so sagten uns viele Frauen, seien sie gezwungen, zu ihren Peinigern zurückzukehren.

Ungarn fehlt es an nationalen Strategien, um häusliche Gewalt zu bekämpfen und ihr vorzubeugen. Die entsprechenden Richtlinien für die Polizei werden nur unzureichend umgesetzt. Richtlinien für Strafverfolger, medizinische Experten oder Sozialarbeiter fehlen vollständig. Die relevanten Berufsgruppen werden nur wenig geschult. Finden entsprechende Schulungen statt, so werden diese häufig nicht vom Staat finanziert. Das vorherrschende traditionelle Frauen- und Gesellschaftsbild sowie ein gesellschaftsübergreifender Mangel an Verständnis der Dynamiken häuslicher Gewalt stellen gravierende Hindernisse dar, so Human Rights Watch.

„Die ungarische Regierung soll den Schutz von Opfern häuslicher Gewalt zur Priorität machen”, so Gall. „Es ist unerhört, dass Frauen, die aus einer gewalttätigen Beziehung entkommen wollen, auf Feindseligkeit und Gleichgültigkeit anstatt auf Unterstützung stoßen.”

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