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(London) – Syrische Regierungskräfte und ihre Verbündeten haben am 2. und 3. Mai 2013 mindestens 250 Menschen in den Städten al-Bayda und Baniyas hingerichtet, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Damit handelt es sich um zwei der größten Massenexekutionen seit dem Beginn des Konflikts in Syrien.

Der 68-seitige Bericht „‘No One’s Left‘: Summary Executions by Syrian Forces in al-Bayda and Baniyas“ basiert auf Interviews mit 15 Anwohnern von al-Bayda und fünf Personen aus Baniyas, von denen einige mitanhörten oder sahen, wie Regierungstruppen und regierungsfreundliche Kräfte ihre Angehörigen verhafteten und hinrichteten. In Zusammenarbeit mit Überlebenden und Aktivisten vor Ort hat Human Rights Watch eine Liste von 167 in al-Bayda und 81 in Baniyas getöteten Menschen erstellt. Augenzeugenberichte und Videoaufnahmen belegen, dass die überwältigende Mehrheit nach militärischen Zusammenstößen hingerichtet wurde, zu einem Zeitpunkt, als die oppositionellen Kämpfer sich bereits zurückgezogen hatten. Die tatsächlichen Opferzahlen sind möglicherweise noch höher, gerade in Baniyas, da die Region schwer zugänglich ist und Todesursachen manchmal nicht feststellbar sind.

„Während die Welt auf die schockierenden Beweise für den Einsatz von Chemiewaffen in den Vororten von Damaskus blickt, dürfen wir nicht vergessen, dass die syrischen Regierungstruppen Zivilisten auch mit konventionellen Methoden abschlachten“, sagt Joe Stork, kommissarischer Leiter der Abteilung Naher Osten von Human Rights Watch. „Überlebende kamen mit grauenhaften Berichten zu uns, wie ihre unbewaffneten Angehörigen von Regierungskräften und ihren Verbündeten vor ihren Augen niedergemetzelt wurden.“

Die syrische Regierung bestätigt ihre Militäroperationen in al-Bayda und Baniyas, behauptete aber, ihre Streitkräfte hätten nur „Terroristen“ getötet. Ali Haidar, Staatsminister für Nationale Aussöhnung, sagte dem Wall Street Journal, dass es im Zuge der Operationen möglicherweise zu „Fehlern“ gekommen sei, die ein Regierungskomitee untersuchen würde. Aber er behauptete auch, die Regierung hätte unbedingt verhindern müssen, dass die Rebellen in einem Teil von Syrien Fuß fassen, das viele als Kerngebiet der Alawiten betrachten.

Am Morgen des 2. Mai stießen Regierungstruppen und verbündete Milizen in der 7.000-Einwohner-Stadt al Bayda mit oppositionellen Kämpfern zusammen. Der Ort ist 10 Kilometer von der Küstenstadt Baniyas entfernt. Das Gebiet gilt als sunnitische, regierungsfeindliche Enklave im überwiegend alawitisch und regierungsfreundlich geprägten Gouvernement Tartus. Zeugen berichteten, dass die Oppositionellen sich gegen 13 Uhr zurückzogen. Die Regierungstruppen stürmten daraufhin den Ort und begannen, Häuser zu durchsuchen.

Im Verlauf der nächsten drei Stunden drangen die Streitkräfte in Häuser ein, trennten Männer und Frauen, trieben in allen Bezirken die Männer an einem Ort zusammen und richteten sie durch Schüsse aus kurzer Entfernung hin. Auch mindestens 23 Frauen und 14 Kinder, darunter Säuglinge, wurden getötet.

Eine Zeugin aus al-Bayda beschrieb, wie Soldaten ihr Haus stürmten, ihren Mann, seine drei Brüder und einen Nachbarn in eine Wohnung nebenan brachten und sie hinrichteten:

Plötzlich hörten wir Schüsse. Ich rief meiner Schwiegermutter zu: „Die Männer sind weg, Abu Muhammad, die Männer!“ Ich rannte zum Fenster und sah etwa 20 Soldaten die Nachbarwohnung verlassen. Sobald sie weg waren, rannten wir aus der Wohnung heraus, in der sie uns zurückgelassen hatten, hinein in das Apartment, in das sie die Männer gebracht hatten. Als erstes sah ich die Leiche meines Mannes hinter der Tür. Dann fand ich die Leiche von Sa’id im Flur. Die anderen drei lagen übereinander in einem Zimmer. Jeder von ihnen hatte drei Schussverletzungen.

In vielen Fällen haben Anhänger der Regierung die Leichen verbrannt. Zeugenaussagen und Videoaufnahmen belegen, dass sie in einem besonders grausamen Fall mindestens 25 Leichen in ein Telefongeschäft auf dem Dorfplatz gebracht und angezündet haben. Die Regierungskräfte und ihre Verbündeten setzten auch Wohnungen in Flammen, plünderten sie und zerstörten willkürlich Eigentum. Das beweisen mehrere Zeugenaussagen und Videoaufnahmen. Ein Video wurde vermutlich von einem Regierungsanhänger aufgenommen und geriet anschließend in die Hände einer anderen Person, die es auf YouTube einstellte. Andere stammen von Anwohnern und zeigen brennende Wohnungen und Autos.

Am nächsten Tag ereignete sich ähnliches in Ras al-Nabe, einem Viertel von Baniyas. Augenzeugen berichteten, dass Regierungskräfte und ihre Verbündeten Duzende Anwohner hinrichteten, nachdem sie das Viertel gestürmt hatten.

In beiden Orten haben Regierungskräfte und ihre Verbündeten ganze Familien hingerichtet oder es versucht. Drei Anwohner sagen, dass die Angreifer alle Mitglieder eines Zweigs der Bayasi-Familie hingerichtet haben, die sich am 2. Mai in ihren Wohnungen aufgehalten haben - mindestens neun Männer, drei Frauen und 14 Kinder mit Ausnahme eines dreijährigen Mädchens, das trotz seiner Schusswunden überlebte. Sie fanden die Leichen, nachdem die Streitkräfte al-Bayda verlassen hatten.

Eine der Personen, die die Leichen als erstes entdeckten, berichtete:

Ich war gerade dabei, den überlebenden Anwohnern dabei zu helfen, die Stadt zu verlassen, als der Verlobte einer der Frauen der Bayasi-Familie mich bat, mit ihm gemeinsam nach ihr zu sehen. Wir gingen zum Haus von Mustafa Ali Bayasi. Wir gingen hinein. Im ersten Raum fanden wir nichts. Als wir weiter ins Haus hineingingen, kamen wir in einen Raum, in dem wir unzählige Leichen fanden. Mütter und Kinder lagen übereinander. Eine Mutter hielt immer noch ihren Sohn im Arm. Erst dachte ich, vielleicht hat er überlebt, aber als ich sie umdrehte, erkannte ich, dass auch er erschossen wurde. Die Verlobte meines Freundes war auch tot. Wir haben alle Fenster zugemacht, weil wir nicht wollten, dass wilde Tiere hineinkommen.

Auch Bewohner von Ras al-Nabe berichteten, dass sie die Leichen ganzer Familien, auch von Kindern, gefunden haben, die zusammen getötet worden waren. Aus den Verletzungen, insbesondere Schusswunden im Kopf und in der Brust, und den Fundorten der Leichen, die zum Teil übereinander auf der Straße lagen, schlussfolgerten sie, dass die Toten hingerichtet worden waren.

Zwei Bewohner von Ras al-Nabe sagten, dass sie am Nachmittag des 3. Mai am Rande des Viertels einen Berg von etwa 30 Leichen sahen, darunter mindestens sieben Frauen und sechs Kinder, die überwiegend den Familien Suleiman und Taha angehörten. Ein Nachbar, Bassam, berichtete, dass er bewaffnete Männer beobachtete, die er als Angehörige der Sicherheitskräfte oder der Armee identifizierte. Kurz darauf hörte er seinen Nachbarn, der zur Familie Suleiman gehörte, auf der Straße schreien, dass seine Eltern getötet worden seien. Bassam sagte, dass er seinen Nachbarn vor den 30 Leichen auf der Straße fand.

Andere Zeugenberichten zufolge bestanden die Streitkräfte, die in die zwei Orte eindrangen, aus Angehörigen regulärer Regierungstruppen, der im Frühjahr von der Regierung geründeten, paramilitärischen Nationalverteidigung sowie aus bewaffneten, regierungsfreundlichen Anwohnern benachbarter Orte. Eine Zeugin sagte, dass die Soldaten, die in ihr Haus eindrangen, schwarze Aufnäher auf ihren Ärmeln trugen, die sie als Angehörige von Sondereinheiten identifizierten. Journalisten von regierungsnahen Medien interviewten am 2. Mai Soldaten am Rande von al-Bayda, die andeuteten, dass Armee und Nationalverteidigung die Angriffe anführten.

Human Rights Watch hat auch frühere Massenhinrichtungen und außergerichtliche Tötungen dokumentiert, die von Regierungstruppen und ihren Verbündeten verübt wurden, nachdem diese Operationen in unterschiedlichen Landesteilen durchgeführt hatten, etwa in Daraya, einem Vorort von Damaskus, sowie in den Gouvernements Homs und Idlib. Darüber hinaus liegen Beweise vor für von oppositionellen Kräften verübte Hinrichtungen in von ihnen kontrollierten Gebieten in den Gouvernements Homs und Aleppo. Human Rights Watch hat zudem soeben eine Untersuchung über Hinrichtungen durch Rebellenkämpfer während einer Offensive Anfang August in Nord-Latakia abgeschlossen.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen soll gewährleisten, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, indem er die Situation in Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verweist. Darüber hinaus soll der Sicherheitsrat darauf bestehen, dass die syrische Regierung vollständig mit der Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kooperiert, dem sie uneingeschränkten Zugang zu al-Bayda und Baniyas gewähren soll. Auch soll die Regierung alle Ergebnisse ihres Komitees veröffentlicht, das laut Staatsminister Haidar die Tötungen in al-Bayda und Baniyas untersucht.

„Der Sicherheitsrat kann jetzt abschreckend wirken und dadurch weitere Tötungen verhindern – nicht nur durch chemische Waffen, sondern auch durch andere Mittel und durch jede Konfliktpartei – wenn er die Situation jetzt an den IStHG überweist“, so Stork. „Während die USA und Russland jetzt über Syriens chemische Waffen verhandeln, sollten sie nicht die Opfer und ihre Angehörigen vergessen. Wie Menschen getötet werden ist dabei zweitrangig.“

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